Pheria 1 – Verhängnisvoller Zauber – Orianas Reich

Als Michelle am nächsten Morgen erwachte, trieben sie auf dem offenen Meer. Land war nicht zu sehen und der Himmel über ihnen tiefgrau wie vor einem Unwetter. Unwillkürlich drängte sie sich an Nick.
„Keine Sorge, es wird nur regnen“, sagte Damaris, „und unsere Reise verläuft nach Plan.“
„Du kannst Damaris vertrauen.“ Chalina lächelte sie an. „Seine Wettervoraussagen sind genau.“
Dennoch war das kein Wetter, bei dem sie sich auf einem Floß aufhalten mochte. Sie betrachtete die Baumstämme, die mit groben Seilen miteinander verbunden waren. Der Wellengang schwappte regelmäßig über den Rand des Flosses, aber hier in der Mitte hatten sie trockene Füße.
Als sie sich aufsetzte, wachte Nick auf.
„Guten Morgen, Michelle“, sagte er und blinzelte verschlafen.
„Ich hoffe, ihr mögt trockenes Früchtebrot.“ Chalina reichte ihnen einige Scheiben, die Zwieback ähnelten.
Sie nahmen es dankend an und Michelle stieg ein angenehmer Duft nach Himbeeren in die Nase.
„Also, was wollt ihr auf der Insel?“, fragte Nick und biss ins Früchtebrot.
„Wir hoffen, dass sich dort ein Teil der Prophezeiung erfüllt: Mit Hilfe eines magischen Artefakts wird ein Menschenmädchen unsere Welt retten.“
Nick starrte Imena ungläubig an und auch Michelle fehlten die Worte. Das, was sie in der Nacht gehört hatte, war also kein Traum oder ein Streich ihrer Sinne gewesen.
„Das ist nicht euer Ernst“, sagte Nick. „Michelle und ich wollen nur nach Hause. Warum sollten wir nach irgendeinem Gegenstand suchen?“
„Das ist gleichzeitig der einzige Weg heimzukehren.“
„Warum wir?“, fragte Michelle und schaute auf Damaris‘ und Kenars Waffen. „Ihr seid Kämpfer, wir jedoch sind normale Menschen. Was können wir tun, wozu ihr nicht in der Lage seid?“
„Nur Menschen können unbeschadet das Tote Land betreten, in dem sich die Götter aufhalten, weil sie ohne Magie sind. Wir dagegen stürben. Wie ein immer hungriges Raubtier verschlingt der Zauber im Totem Land Magie. Einzig die Götter können euch heimbringen, also bleibt euch keine Wahl, als dorthin zu reisen, und sie benötigen etwas, das sie stärkt.“
„Das wird immer absurder.“ Nick schaute sich um, als wären sie in eine Falle geraten. Vielleicht fragte er sich, ob ihre Begleiter verrückt waren.
Michelle dagegen war schwindelig von den neuen Informationen. Hatten sie nicht bereits genug Abenteuer in dieser Welt erlebt? Sie schaute zu Nick und eine tiefe Dankbarkeit, dass ihm nichts geschehen war, breitete sich in ihr aus. Einige Regentropfen fielen ihr ins Gesicht, Nick schlüpfte rasch aus seiner Jacke und reichte sie ihr.
„Zieh das über, Michelle.“ Nachdem sie sich die Lederjacke um die Schultern gelegt hatte, sagte er: „Keine Angst, ich pass auf dich auf.“
Michelle gelang es, zu lächeln, dann fiel ihr auf, dass etwas Vertrautes an Nick fehlte.
„Es tut mir leid, dass du deine Kamera verloren hast.“
Nick fuhr sich durch das Haar.
„Das ist schon ärgerlich, aber dass dir nichts passiert ist, ist das Wichtigste.“
Ihr Herz machte einen Satz, auch wenn sie wusste, dass er wie ein großer Bruder für sie empfand. Sie erinnerte sich zu gut an den Tag, der ihr das klargemacht hatte. Michelle war 12 Jahre alt gewesen und Nick 15. Wie so oft hatte er mit seinen Freunden hinter der Sporthalle gestanden und sie hatte ihm ein Spiel bringen wollen, das sie sich von ihm ausgeliehen hatte. Als sie um die Ecke bog, hatte Tom Nick gefragt, ob er in sie verliebt war.
„Bist du verrückt?“, hatte Nick, ohne zu zögern, geantwortet. „Sie ist wie eine jüngere Schwester. Verliebst du dich etwa in kleine Mädchen?“
„Nie im Leben, und ich hoffe, du bringst sie nicht zur Party mit.“
„Natürlich nicht, ich werde Lara oder Janine fragen.“
„Oh, die heißblütige Schönheit oder die stolze Eiskönigin. Jede von ihnen wäre eine Bereicherung für die Party.“
Die Tränen bekämpfend war Michelle leise einige Schritte zurückgetreten, bevor sie ins Mädchen-WC flüchtete. Nachdem sie in eine Kabine gerannt war und die Tür verschlossen hatte, lehnte sie sich dagegen. Ihr Herz fühlte sich an, als hätte jemand es auseinandergerissen. Sie sank an der Tür herab und weinte.
Nachdem sie sich beruhigt hatte, regten sich Ängste in ihr. Würde Nick den Kontakt zu ihr abbrechen, weil sie nicht zu einem coolen Jungen passte? Sie wusste, dass er Wert darauf legte, einer zu sein. Niklas, sein richtiger Name, war ihm schließlich nicht gut genug gewesen, dabei klang er so wunderschön und sie würde ihn gerne wieder so nennen. Ihre Befürchtung jedoch trat nicht ein. Obwohl Lara seine Freundin wurde, bat er Michelle darum, sein Model zu sein, als er wenig später seine Leidenschaft fürs Fotografieren entdeckte, und sie verbrachten ebenso viel Zeit miteinander wie zuvor.
„Was ist Michelle? Du machst einen weggetretenen Eindruck.“
„Ach nichts, ich habe mich nur an etwas erinnert.“
Mit den beiden Jacken war ihr warm geworden und sie war froh, dass es inzwischen aufgehört hatte, zu regnen, sodass sie die Lederjacke wieder ausziehen konnte. Michelle starrte auf den Horizont, an dem noch nichts zu sehen war. Die Wesen dieser Welt schwiegen, aber sie war sich der abschätzenden Blicke bewusst. Was immer sie hierher gebracht hatte, hatte einen großen Fehler gemacht. Vielleicht sollte einfach der erste Mensch ausgewählt werden, dachte sie und ihre Finger verkrampften sich. Hätte sie nicht in das Horn geblasen, wären sie nicht hier. Sie musste die Verantwortung dafür übernehmen.
„Was für ein Artefakt sollen wir den Göttern bringen?“
„Wir glauben, dass die Prophezeiung einen besonderen schwarzen Diamanten meint.“
Sowohl Imena als auch die Prophezeiung drücken sich ungenau aus, dachte Michelle, während Nick den Mund verzog.
„Ihr wisst es also nicht. Warum eigentlich halten sich eure Götter an einem Ort auf, der sie schwächt?“
„Sie wirken selbst den Zauber, um Pheria zu beschützen, indem sie es von einer anderen Welt getrennt halten.“
Nick atmete laut aus und rieb sich die Stirn. In der Hoffnung, ihn damit beruhigen zu können, streckte Michelle die Hand aus und berührte seinen Unterarm. Tatsächlich hörte er auf und schaute sie lächelnd an.
„Also gut, holen wir diesen Diamanten und gehen nach Hause.“
Sie nickte und versprach sich, ihr Bestes zu geben.

Am Horizont tauchte eine Insel auf. Auf der linken Seite erhoben sich Klippen, während der Rest der Insel bis auf den breiten Strand mit Palmen und anderen tropisch wirkenden Bäumen bewaldet war. Beim Näherkommen entdeckte Michelle in der steilen Felswand die Vorderseite eines Tempels. Sechs Säulen stützten das Dach, dessen Mitte von einer Muschel gekrönt war. Links und rechts davon hatten die Erbauer Wellenformen aus den Stein gehauen, die sich auf die Muschel zubewegten.
Als das Wasser Michelle etwa noch bis zum Hals gereicht hätte, sprang Kenar vom Floß, das sich einen Moment stark neigte. Rasch umklammerte sie die Kante der Sitzbank, bevor das Floß einige Male wie ein junges Fohlen auf und ab hüpfte. Sie rutschte nach vorne und hielt sich am Mast fest, bis es wieder ruhig im Wasser lag.
„Hättest du dich nicht gedulden können?“, fragte Chalina, deren Kleid nass gespritzt worden war.
Noch schlimmer hatte es Gavin getroffen; er war ins Wasser gefallen und paddelte nun eilig an Land.
„Wirf mir das Seil zu“, sagte Kenar, ohne Chalinas Frage zu beantworten oder sich zu entschuldigen.
Seufzend nahm Damaris das Tau, schwang es einige Mal und warf es. Es flog genau auf Kenar zu, so dass er nur die Hand heben musste, um es aufzufangen, dann zog er sie an Land.
Nachdem sie die Insel betreten hatten, rief Chalina: „Das erste Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, frei atmen zu können.“
Mit ausgebreiteten Armen drehte sie sich einmal wie ein fröhliches Kind im Kreis.
„Sei nicht übermütig“, sagte Tejon. „Auch wenn wir vor Alukas Geschöpfen hier sicher sind, bedeutet das nicht, dass es keine Gefahren gibt.“
Wie riesige Krabben?, fragte sich Michelle und schaute sich um. Sie entdeckte nichts Besorgniserregendes, im Gegenteil, sie hatte noch nie einen schöneren Strand gesehen. Der feinkörnige Sand war fast weiß und das Rauschen des Meeres beruhigte sie.
„Ist diese Insel bewohnt?“, wollte Nick wissen.
„Nein, sie ist der Meeresgöttin Oriana heilig“, antwortete Imena. „Gehen wir zum Tempel.“
„Bitte verhaltet euch in der Wohnung unserer Göttin respektvoll.“
„Warum schaust du mich dabei an, Gheran?“, fragte der Zentaur verstimmt. „Ich weiß, wie man eine Göttin ehrt.“
„Komm schon, Kenar,“ sagte Chalina lachend, „würdet ihr gerne Fremde in euer Gebetshaus lassen?“
„Natürlich nicht!“ Nach dieser Aussage wandte er sich ab und sie gingen auf den Tempel zu.
Ein aufwändiges Muster von Schuppen bedeckte die Säulen und die beiden großen Flügeltore waren geschlossen. Imena bat Kenar, mit ihr das Rechte aufzustemmen. Langsam gab es nach und Licht fiel in die Säulenhalle. An deren Ende stand die weiße Marmorstatue einer Frau auf einem Podest und in den Nischen zu beiden Seiten befanden sich sechs weitere Figuren.
„Gebt uns einige Zeit, um zu beten“, sagte Imena. „Wollt ihr nicht auch die Gelegenheit nutzen, um eure Götter um Hilfe zu bitten?“
„An so etwas glaube ich nicht.“
Erschrocken sah Michelle Nick an. Auch in ihrer Welt konnte man in einen heftigen Streit geraten oder gar getötet werden, wenn man vor der falschen Person ihren Gott anzweifelte, doch ihre Begleiter wechselten nur einen verständnislosen Blick, bevor sie sich verteilten.
Leise trat Michelle in die Halle, um die Götterstatuen besser betrachten zu können. Damaris kniete vor einem Mann, der trotz langem Bart und Haar jung wirkte. Chalina und Imena beteten einen anderen Gott an. Mit seinem kräftigen Körper, dem Lendenschurz und der Spitzhacke sieht er fast wie ein Bergarbeiter aus, dachte Michelle, doch die Haltung war die eines Herrschers. Neugierig schaute sie die Göttin an, die Tejon verehrte. Obwohl sie ein schönes Gesicht hatte, hatte sie etwas Düsteres an sich und Michelle wandte sich ab. Kenar und Gavin hatten sich vor der Göttin in der dritten Nische auf der rechten Seite verneigt. Als sie ihr ins Gesicht schaute, berührte sie das Lächeln und ihr Herz schien sich zu öffnen wie eine Blume, die von der Sonne wachgeküsst wurde. Ob das eine Frühlingsgöttin war? Ihre mit einem Blumenkranz geschmückten Haare fielen ihr in leichten Wellen auf die Schultern und ihre Schönheit war bezaubernd.
Aus dem Augenwinkel sah Michelle, wie Tejon sich erhob.
„Wenn ihr es wünscht, kann ich euch etwas über unsere Götter erzählen.“
Sie nickte, denn sie wollte so viel wie möglich über die Umgebung lernen, in der sie in nächster Zeit leben sollten.
„Meine Herrin ist Ameya, die Göttin der Unterwelt. Ihr Gatte“, Er deutete auf die Statue, vor der Chalina und Imena knieten, „ist der Gott der Erde Saghar. Damaris verehrt Minar, den Gott des Himmels und Wetters. Vor Dsura knien Kenar und Gavin. Sie ist die erste Göttin, die mit ihrer Schwester Aluka aus dem Nichts entstand.“
„Ihre Schwester? Habt ihr nicht gesagt, Aluka wäre eine Dämonin?“
„Ja, denn sie kann nicht als Göttin bezeichnet werden. Während Dsura andere Götter und Wesen schuf, strebte Aluka nach mehr Macht. Weder vor Sklaverei noch vor Mord schreckte sie zurück. Die Magie, die Aluka anderen stahl, schloss sie in einen perfekten schwarzen Diamanten ein. Letztendlich wollte sie so viel Kraft sammeln, um die Götter zu besiegen, aber Eshan – “ Tejon deutete auf die vorletzte männliche Statue, die einen bildschönen Gott darstellte, „gelang es, Aluka auszutricksen und den schwarzen Diamanten zu stehlen. Er wird als Gott der Liebe und Schönheit verehrt.“
Michelle schaute zum letzten Gott. Gesichtszüge als auch Augen wirkten ausdruckslos.
„Das ist Nessor, der Sohn von Ameya und Saghar. Wir nennen ihn den wandernden Gott.“
Als alle mit ihrem Gebet fertig waren, traten sie vor Oriana und verbeugten sich vor ihr. Michelle folgte ihren Beispiel.
„Bitte vergebt uns unser Eindringen, Göttin der Meere“, sprach Imena.
Nick verdrehte die Augen, aber wenigstens sagte er nichts.
Die Steinfrau fuhr fort: „Dieses Mädchen hier ist nach meiner Prophezeiung diejenige, die unsere Welt retten kann. Wenn du es vermagst, hilf uns bei der Suche-“
„Suche?“, unterbrach Nick sie und der scharfe Ton in seiner Stimme war nicht zu überhören.
„Menschensohn“, sagte Imena, ohne ihren Blick von Orianas Gesicht zu nehmen, „dies ist nicht der richtige Zeitpunkt.“
Nick öffnete den Mund, dann biss er sich auf die Unterlippe, aber seine Augen funkelten noch. Während Imena sich für sein Verhalten entschuldigte und nochmals um Hilfe bat, schaute Nick Kenar an. Warum? Oder galt sein Blick Tejon, der neben dem Zentauren stand? Das war etwas schwierig festzustellen, weil sie den Kopf nicht drehen wollte. Michelle erschien das respektlos und Nick hatte bereits die Gefühle ihrer Begleiter verletzt.
Imena beendete ihr lautes Gebet und wandte sich ihnen zu. Nick verschränkte die Arme.
„Ihr wisst also nicht, wo sich der schwarze Diamant befindet. Ich mag es nicht, wenn man erst mit der Wahrheit herausrückt, wenn man keine Wahl mehr hat. Wir haben ein Recht, alles zu erfahren.“
„Das ist richtig, wir wissen nicht, wo Alukas schwarzer Diamant versteckt ist. Wir vermuten, dass er sich hier befindet, weil dieser Ort nicht nur vor Aluka geschützt, sondern auch am weitesten vom Toten Land entfernt ist. Über gewisse Dinge werden wir weiterhin jedoch nur an einem sicheren Ort sprechen. Hast du noch Fragen oder können wir mit der Suche beginnen?“
Nach einigen Momenten schüttelte er den Kopf und Imena schritt an ihnen vorbei auf die Tür zu, die sich rechts hinter Orianas Statue befand. Die Tür war aus hellgrauem Holz und ließ sich öffnen, ohne zu knarren. Der Gang dahinter war völlig dunkel.
Imena holte aus ihrer Tasche eine Fackel und bat, Damaris sie zu halten, dann nahm sie zwei Feuersteine und entzündete sie mit einem Funken. Nachdem sie noch eine zweite Fackel angezündet und Kenar gegeben hatte, traten sie in den Flur. Der Boden war mit hellblauen Marmorplatten bedeckt und Decke und Wände waren strahlend weiß, was Michelle seltsam vorkam. In einem verlassenen Tempel erwartete man Spinnweben in den Ecken, bröckelnden Putz und mehrere Staubschichten, aber auch die Halle hatte einen gepflegten Eindruck gemacht. Sie war überzeugt, dass die Erklärung ihrer Begleiter gewesen wäre, dass dies ein magischer Ort wäre. Sie erreichten eine Treppe, die sowohl nach oben als auch nach unten führte.
„Gehen wir in den ersten Stock“, sagte Imena.
„Der Keller wäre ein besserer Ort für ein Versteck“, meinte Nick.
„Da er unter Wasser liegt, hat Gherans Volk ihn bereits mehrmals durchsucht, doch nichts gefunden. Kenar, warte bitte hier.“
Sie gingen nach oben und fanden einen Flur mit drei Türen vor. Leise öffneten sie sie und entdeckten ein Schlafgemach, einen Wohnraum und ein riesiges Bad. Scheinbar lebten die Götter nicht sehr viel anders als Menschen.
„Ihr Männer durchsucht das Wohnzimmer“, entschied Imena. „Wir untersuchen das Schlafzimmer.“
Nick ignorierte die Anweisung und folgte ihnen, doch niemand hielt ihn auf. Durch eine breite Balkontür fiel Licht in den Raum und offenbarte ein großes Himmelbett, an dessen Seiten zwei Kommoden aufgestellt worden waren. Vorhänge für das Bett und die Balkontür fehlten, doch wunderschöne Schnitzereien von Delfinen und Schildkröten verzierten das Fußende. Das letzte Möbelstück, ein großer Kleiderschrank, stand neben der Tür. Während Imena sofort die oberste Schublade der nächsten Kommode öffnete, zögerte Chalina, das Eigentum einer Göttin zu durchsuchen. Michelle wand sich dem Kleiderschrank zu.
„Verschwinde nicht nach Narnia.“
Da sind wir doch schon, dachte sie, trotzdem öffnete sie vorsichtig die Türen. Was für wunderschöne Kleider! Sie berührte den seidig glänzenden Stoff. Er war so zart, dass sie angenehm erschauderte. Michelle untersuchte jedes Kleid, aber keines hatte Taschen und der Stoff war zu dünn, um etwas darin einzunähen. Auf dem Boden des Kleiderschrankes standen keine Schuhe. Scheinbar lief Oriana lieber barfuß.
„Komm mal, Michelle.“
Sie wandte den Kopf und sah, dass Nick auf dem Balkon stand. Hatte er etwas gefunden? Nachdem sie den Kleiderschrank geschlossen hatte, trat sie neben ihn. Sie befanden sich auf der anderen Seite der Klippe. Nick stützte sich auf die Brüstung.
„Wie fühlst du dich?“
„Gut.“
„Wer immer hier gelebt hat, hatte eine wunderbare Aussicht“, sagte Nick.
Michelle blickte auf das Meer. Es war beruhigend in seiner Weite und sie vergaß einen Augenblick ihre Situation und atmete tief durch. Mit einem schlechten Gewissen sah sie über die Schulter. Imena klopfte den Boden ab und Chalina schaute sich die Schnitzereien näher an. Es wurde Zeit, wieder den schwarzen Diamanten zu suchen.
„Hilfst du mir, den Schrank fortzuschieben?“
„Ja, sicher.“
Die Wand hinter dem Schrank erschien normal. Unsicher klopfte Michelle sie ab. Sie verschoben auch noch die Kommoden und das Bett, aber nirgends klang es hohl. Nachdem sie alles in den Ursprungszustand versetzt hatten, verließen sie das Schlafgemach, um ins Bad zu gehen. Dort suchten schon Tejon, Damaris und Gavin.
„Wir sind erst seit wenigen Minuten hier“, sagte Damaris.
In der Mitte des Raumes befand sich ein rundes Becken, das sicher größer war als Michelles Zimmer. Es gab bis auf eine Bank keine weiteren Möbel. Ihre Augen suchten die Wände ab. Zeichnungen von Meerestieren und Meermenschen schmückten die türkisen Fliesen. Sie überlegte, was ein gutes Geheimversteck wäre. Ließ sich ein Teil der Sockelleiste entfernen oder eins der Fensterbretter anheben? Michelle ging in die Hocke und rüttelte an der Fußleiste. Erfolglos.
„Vielleicht befindet sich der Diamant irgendwo auf der Insel“, flüsterte Chalina.
„Es ist zu früh, solche Vermutungen anzustellen, wenn wir den Raum noch nicht mal zur Hälfte überprüft haben“, antwortete Imena und schritt die Treppe ins Becken hinunter.
Auf einmal fiel Michelle eine Fliese mit einer Meerjungfrau auf, die auf etwas Rechteckiges in ihrer Hand schaute. Von den Maßen erinnerte es an ein Smartphone und sie berührte es. Mit einem Klicken sprang die Fliese nach vorne und offenbarte ein Geheimfach, in dem ein unscheinbares, längliches Kästchen aus dunklem Holz lag.
„Ich hab etwas gefunden.“
„Fass es nicht an!“
Überrascht vom Ton sah sie Nick an, während alle anderen neugierig näherkamen.
„Denkst du, dass es mit einer Falle gesichert ist?“
„Ich glaube nicht, dass unsere Götter zu solchen Mitteln greifen“, sagte Imena, „aber lass mich es nehmen.“
Michelle wich zur Seite und die Steinfrau nahm das Kästchen heraus. Als sie es öffnete, sah sie, dass darin eine Schriftrolle lag. Imena entrollte sie.
„Was steht da?“, fragte Damaris.
„Das, was ihr sucht, findet ihr tief unter der Erde.“
„Tief unter der Erde?“, rief der Satyr aus. „Das könnte überall sein.“
Imena schüttelte den Kopf.
„Es muss ein Ort sein, der von Alukas Geschöpfen gut geschützt ist, den aber ein Mensch erreichen kann.“
„Da käme der gesamte Wald in Frage.“
„Zu nah an Atlas“, erwiderte Damaris und sie schwiegen.
Sie hatten einen Anhaltspunkt, konnten jedoch damit nichts anfangen. Michelle schaute zu Nick, aber der bemerkte ihren Blick nicht und starrte auf den Boden. Bestimmt fühlte er sich ebenso hilflos wie sie.
„Wir sollten Kenar und Gheran mitteilen, was wir herausgefunden haben“, sagte Chalina nach einer Weile.
Nachdenklich nickte Imena und sie gingen nach unten. Der Zentaur fluchte, als er erfuhr, dass sie statt den Diamanten eine Schriftrolle mit einem Rätsel gefunden hatten. Als sie den Tempel verließen, warf die Sonne bereits lange Schatten und Imena sagte, dass sie das restliche Tageslicht nutzen sollten, um die Vorräte aufzufüllen, damit sie morgen früh gleich aufbrechen konnten. Sie bildeten zwei Gruppen: Imena, Kenar und Tejon wollten nach Wasser suchen, der Rest sollte Nahrung sammeln.
Am Rande des Waldrandes wuchsen hüfthohe Farne. Während sich ihre Begleiter lautlos bewegten, hatte Michelle das Gefühl, dass Nick und sie auf jeden Zweig traten, der unter dem Laub verborgen war.
„Wie hast du das Geheimversteck gefunden?“, fragte Chalina.
„Was die Meerfrau hielt, sah aus wie ein Smartphone.“
„Ein was?“
Michelle zeigte ihr ihres.
„Für was ist das gut?“
„Du kannst damit mit einem Menschen sprechen, der weit entfernt ist, wenn er auch eins hat.“
„Ich dachte, Menschen hätten nichts Magisches.“
„Das ist keine Magie. Ein Satellit im Himmel überträgt alles.“
Chalina wirkte noch verwirrter und Michelle wurde bewusst, dass sie wieder ein unbekanntes Wort verwendet hatte. Dazu eines, das sie selbst nicht näher erklären konnte.
Die hellhaarige Frau lächelte. „Deine Welt scheint erstaunlich zu sein, aber es ist wohl wichtiger, dass du etwas über meine erfährst.“
„Dort sind Oris“, sagte Damaris, der ganz vorne ging, und änderte die Richtung.
Michelle fand, dass sie bis auf die pinke Farbe fast wie Pflaumen aussahen. Sie begannen sie zu pflücken.
„Wenn du sie erhitzt, sind sie essbar“, erklärte Chalina ihr. „Von Rohen bekommst du schlimme Bauchschmerzen.“
Mit Armen voller Früchte kehrten sie zum Strand zurück. In der Nähe des Floßes brannte ein Lagerfeuer und der Wind wehte den Geruch von gebratenem Fisch zu ihnen.
Kenar hielt auf Zweige gespießte Fische ins Feuer und Imena saß ihm mit überkreuzten Beinen gegenüber. In ihren Schoss lag die Schriftrolle, beschwert mit einem Stein. Chalina legte den Zeigefinger auf den Mund, doch da wandte die Steinfrau den Kopf.
„Nein, nehmt Platz und esst.“
Sie setzten sich. Der Sand war so feinkörnig, dass er sich weich anfühlte. Auf jeden Fall würden sie besser schlafen als auf dem Floß. Kenar reichte Nick und ihr einen Fisch und Damaris stieß eine Portion Früchte ins Feuer.
„Die Prophezeiung von einem Menschenmädchen … bedeutet sie, dass es keine Menschen hier gibt?“ Nick starrte Damaris und Chalina an. „Dass ihr keine Menschen seid?“
„Nein, ich bin eine Waldnymphe.“
„Windgeist“, sagte Damaris.
Nick schaute zu Tejon, aber der schwieg. Dafür ergriff Imena das Wort: „Ich habe über die Nachricht nachgedacht und glaube, dass damit der Palast in der Unterwelt gemeint ist.“
„Das ist unmöglich.“ Ruckartig blickte Tejon auf. „Die Höhle des Friedens hat bereits ihre Magie verloren. Dem Artefakt wäre es da nicht anders – “ Er hielt inne. „Die Herrin der Unterwelt hat eine Schatzkammer, die tief unter dem Palast liegt.“
„Hoffen wir, dass es da sicher war. Heute Nacht werde ich mich nochmals den Visionen öffnen, aber ich kann bereits sagen, dass sich der Diamant nicht auf dieser Insel befindet.“ Kenar verschränkte die Arme.
„Wie sieht dein Plan aus, Imena, wenn wir in die Unterwelt müssen?“
„Nachdem wir wieder an Land sind, gehen wir so rasch wie möglich in den großen Wald, um in seinem Schutz zum Gebirge zu reisen. Das nächstgelegene Tor zum Unterweltpalast ist das im Nerwin-Tal. Dort steigen wir hinab.“
„Ohne mich“, protestierte Gavin und Kenar schnaubte: „Keine Sorge, wir benötigen dich nicht und erwarten nichts von dir.“
Chalina lächelte. „Du hast genug getan. Wenn du es willst, werden sich unsere Wege im Wald trennen.“
„Michelle, lass uns am Strand spazieren gehen.“ Nick ließ den Zweig mit dem abgenagten Fischskelett fallen und stand auf.
„Bleibt in Sichtweite“, sagte Imena.
Nickend erhob sich Michelle und folgte ihrem Freund. Als sie in ihren Fisch biss, stellte sie fest, dass er fast kalt war, aber das störte sie nicht. Nachdem sie einige Meter gegangen waren, schaute Nick auf das Wasser, dann warf er einen Blick über die Schulter.
„Mir kommt das alles komisch vor. Ich denke nicht, dass wir ihnen trauen können.“
Sie schwieg einige Augenblicke, bevor sie sagte: „Hast du in dieser Welt etwas Ungewöhnliches bemerkt?“
„Außer unsere Begleiter? Nein.“
„An der Küste haben uns riesige Ratten angegriffen.“
Er lachte und Michelle stieß ihm in die Seite.
„Das ist keine Übertreibung. Sie hatten die Größe von Hütehunden. Ich denke wirklich, dass diese Welt gefährlich ist.“
Seufzend sagte Nick: „Wenn es hier Mischwesen gibt, will ich zu groß geratene Ratten nicht ausschließen, aber ich glaube weder an Magie noch an Prophezeiungen – und jetzt reden die auch noch davon, in die Unterwelt hinabzusteigen. Wahrscheinlich ist das nur ein altes Höhlensystem, in das sich keiner traut.“
An die Prophezeiung glaubte sie ebenfalls nicht, aber sie war sich sicher, dass Damaris und Chalina Magie im Kampf genutzt hatten.
„Sie sagten, dass ihre Götter uns zurückbringen können, wenn wir das Artefakt finden.“
„Eher glaube ich an Außerirdische oder eine fortgeschrittene Zivilisation.“ Er seufzte. „Scheint, als ob uns vorerst keine Wahl bleibt, als bei ihnen zu bleiben.“
Sie kehrten zum Feuer zurück und Damaris gab ihnen einige gegarte Früchte. Eigentlich war Michelle satt, aber sie wollte zumindest eine probieren. Irgendwie schmeckte sie nussig. Als sie sich hinlegten, schlief sie schnell ein. Zwischendurch wachte sie einige Male auf und spürte, wie jemand sie ansah. Sie öffnete die Augen einen Spalt und merkte, dass Tejon wach war. Vermutlich muss er aufpassen, ob irgendein Raubtier aus dem Wald kommt, dachte sie bei dem ersten Mal, doch auch beim zweiten und dritten Erwachen ruhte sein Blick auf ihr. Seine Aufmerksamkeit konnte kein Zufall sein und sie war ihr unheimlich. Michelle drehte sich auf die andere Seite und wünschte sich wider ihrer Erfahrung, dass sie den Rest der Nacht durchschlief.

Als Michelle am Morgen aufwachte, roch sie das salzige Meer und richtete sich auf. Einen Moment war sie sprachlos, die Sonne war dabei aufzugehen und tauchte alles in einen warmen goldenen Schein. Die glitzernden Wellen waren wunderschön.
„Nick! Schau dir das an.“
Murrend setzte er sich auf, wurde aber schlagartig munter.
„Verdammt, ich wünschte, ich hätte meine Kamera! Warte, geht dein Smartphone noch?“
Sie nickte.
„Gib es mir.“
„Ich weiß nicht, ob wir es dafür verwenden sollten …“
„Komm schon, das werden einzigartige Bilder.“
Seufzend zog sie das Smartphone hervor und entsperrte es.
„Sei trotzdem sparsam damit. Doppelklick auf die Hometaste für die Kamera-App.“
„Klar, jedes Bild muss stimmen.“
Während Nick einige Fotos machte, schaute Michelle zum Feuer. Bis auf Gavin waren alle wach. Chalina betrachtete ratlos Nick, der sich ihr Smartphone quer vor den Kopf hielt und dann durch die Galerie scrollte.
„Was machst du da?“
Auf seinem Gesicht erschien ein stolzes Lächeln.
„Ich halte den Sonnenaufgang für die Ewigkeit fest.“ Er hielt der Nymphe das Smartphone vor die Nase.
„Das ist erstaunlich. Schaut mal.“
Damaris warf nur einen kurzen Blick drauf. „Es kann nicht mit der Wirklichkeit mithalten.“
Auch die anderen zeigten sich unbeeindruckt und Michelle merkte Nick seine Enttäuschung an, als er ihr das Smartphone zurückgab. Sie schaltete es aus, während sie von Gavin ein Gähnen hörte.
„Halt!“, rief Kenar, „wag es nicht, dich auf die andere Seite zu legen und weiterzuschlafen! Selbst die beiden Menschen sind schon wach.“
Mit zerzaustem Haar richtete sich Gavin auf und sie frühstückten. Bereits gestern war ihr aufgefallen, dass nur Kenar, Gavin, Nick und sie etwas aßen.
„Ich habe keine Prophezeiung erhalten, aber ich weiß, dass sich der Schwarze Diamant weit im Osten befindet.“ Imena warf die Schriftrolle ins Feuer. Innerhalb weniger Augenblicke zerfraß es das Papier.
„Warum hast du das getan?“, fragte Nick.
„Wir werden nichts bei uns tragen, was verloren gehen und Aluka helfen könnte.“
Nachdem sie das Feuer gelöscht hatten, zogen sie das Floss mit Kenar und Imena in das Wasser. Als sie hinaufkletterten, bemerkte Michelle, dass die Unterseite von Gavins Rute weiß war. Wie bei einem Kaninchen, dachte sie und musste lächeln. Das Segel hing schlaff am Mast und die Wellen stießen das Floss zurück an den Strand.
„Wir müssen es weiter ins Wasser bringen, damit Kenar Gheran das Seil zu werfen kann.“
„Michelle, du bleibst hier“, sagte Nick und gab ihr seine Lederjacke, „ich will nicht, dass dein Smartphone auch noch kaputtgeht.“
Wegen seiner Größe blieb Gavin ebenfalls auf dem Floss und Michelle fragte sich, ob die vier anderen genug Kraft hatten, um sie zu bewegen. Der Zentaur wog bestimmt so viel wie ein Pferd, obwohl … gestern hatten sie es ohne Probleme geschafft, das Floss ins Meer zu schieben. Vielleicht waren Nymphen und Windgeister ungewöhnlich stark.
Das Wasser ging Nick und den anderen bis zur Brust, als Kenar Gheran das Seil zuwarf. Der Wassermann wartete, bis alle auf dem Floß waren, und zog sie weiter.
„Im Nordosten sehe ich eine weiße Rückenflosse“, sagte Damaris. „Sie bewegt sich auf uns zu.“
Gheran hielt inne und kniff die Augen zusammen, aber scheinbar konnte er wie Michelle nichts erkennen. Nach einer Weile entdeckte sie eine weiße Rückenflosse, die aus dem Wasser ragte.
„Verdammt, es ist wirklich ein Hai. Ich versuche ihn fortzulocken, bevor er das Floss angreift.“
Gheran warf Damaris das Seil zu, dann schwamm er direkt auf den Hai zu. Einige Meter vor ihm tauchte er ab und auch der Hai verschwand. Mit klopfenden Herzen schaute Michelle sich um. Der Wassermann hatte sie stundenlang gezogen. Hoffentlich war er nicht zu erschöpft, um den Hai zu entkommen.
„Da ist noch einer!“, rief Gavin.
„Bleibt ruhig und bewegt euch nicht“, sagte Damaris.
Der Hai näherte sich und Michelle sah, dass er ungefähr fünf Meter lang war. Nie im Leben hätte sie geglaubt, dass sie einmal einen weißen Hai sähe. Obwohl sie bereits fast in der Mitte des Flosses war, hatte sie das Bedürfnis, sich gegen den Mast zu drängen. Ihr ganzer Körper spannte sich an, während sie den riesigen Raubfisch nicht aus den Augen ließ. Er schwamm an ihnen vorbei, als hätte er das still im Wasser liegende Floss nicht wahrgenommen.
„Den Göttern sei dank“, seufzte Gavin.
Der Hai machte kehrt und kam auf sie zu. Kenar zog sein Schwert.
„Lass das, wir haben unzählige auf dem Hals, wenn er verletzt wird.“ Tejon zog seine Handschuhe aus. „Ich kümmere mich darum.“
Am Rand des Flosses ließ er seine Handschuhe fallen und sprang ins Meer. Sofort änderte der Hai die Richtung. Michelles Herz begann zu rasen. Wie konnte jemand gegen einen Hai in seinem Element eine Chance haben? Das Wasser färbte sich jedoch nicht rot vor Blut, sondern einige Augenblicke später tauchte Tejon auf, nahm seine Handschuhe und zog sie an, bevor er sich wieder hinaufzog. Sein schwarzer Umhang klebte an ihm wie eine zweite Haut und weder seine Kapuze noch seine Maske waren verrutscht.
Überrascht starrte Nick Tejon an. „Wie hast du ihn getötet?“
Tejon antwortete nicht, aber Michelle hatte das Gefühl, dass er lächelte, und einen Moment glaubte sie, Nicks Angst riechen zu können. Warum hatte sie keine? Weil dieser Mann auf ihrer Seite stand? Nach einigen Minuten plätscherte es leise und der Wassermann tauchte auf.
„Bist du verletzt?“, fragte Chalina besorgt.
„Nein, alles bestens.“ Gheran ließ sich wieder das Seil geben und sie setzten ihre Reise fort. Wie bereits auf der Hinfahrt unterhielt sich die Gruppe kaum und selbst der Ausblick auf ein wunderschönes Meer wurde nach einiger Zeit langweilig.

Kapitel 3: Die Ebene