Pheria 1 – Verhängnisvoller Zauber – Die Unterwelt

Gavin entriss ihr seine Hand, doch Tejon packte ihn an den Armen, bevor er zum Tor rennen konnte.
„Jetzt ist es zu spät, sich umzuentscheiden. Oder willst du vom Cerberus zerrissen werden?“ Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die große Höhle neben dem Tor. Weder Imenas Licht noch die bläulich leuchtenden Adern, die sich durch den gesamten Fels zogen, erhellten sie. Aber Michelle hörte laute Atemgeräusche und stellte sich vor, dass das dazugehörige Tier mindestens so groß wie ein Bulle sein musste.
„Schläft er gerade?“, fragte Chalina leise.
„Nicht alle Köpfe. Gehen wir weiter, bevor wir ihn verärgern.“
Alle außer Nick und Tejon schienen angespannt zu sein, als sie so leise wie möglich dem Gang folgten.
„Wie lange brauchen wir zum Palast der Unterwelt?“, fragte Imena.
„Zwei Wochen.“
„Wir werden die Nahrung einteilen. Was ist mit Wasser?“
„Abgesehen vom großen unterirdischen Fluss gibt es nur wenige Quellen. Für den kürzeren Weg müssen wir ein Stück am Fluss laufen. Leider halten sich dort auch viele Geister auf, da fließendes Wasser sie fasziniert.“
„Heißt das, dass die Geister uns feindlich gesonnen sind?“, fragte Michelle.
„Die Toten entwickeln mit der Zeit einen Groll auf alles Lebende. Auch freundliche Seelen bleiben davon nicht verschont, seit die Höhle des Friedens erloschen ist, also sollten wir uns von jedem Geist fernhalten. Als Totengeist kann ich zwar auf sie Einfluss nehmen, aber ich weiß nicht, wie lange ich eine Schar von ihnen zurückhalten kann, und eure Waffen sind vollkommen nutzlos gegen sie.“
„Wird mein Licht sie anlocken?“
„Nein, Geister sehen nicht auf die gleiche Weise wie Lebewesen. Sie können euch spüren, wenn ihr nahe genug kommt. Je nach Geist kann das zwei Manneslängen sein oder auch fünf.“
„Verdammt, wieder müssen wir uns durch die Gegend schleichen“, sagte Kenar. „Sind wir weit genug vom Zerberus entfernt, damit wir stehenbleiben können und ich endlich diese Mäntel loswerde?“
Tejon bejahte und Kenar verteilte die Umhänge. Michelles Umhang war schwer, aber bald war sie froh, dass sie ihn trug, denn die Temperatur sank noch um einige Grad. In ihrem frühlingshaften Kleid hätte sie gefroren. Auf einmal erreichten sie ein weiteres verschlossenes Tor und der Gang führte nach links und rechts weiter.
„Dieses Tor beunruhigt mich“, sagte Chalina.
„Dahinter liegt die Höhle der Verdorbenen.“
„Verdorbenen?“
„Hier kommen Alukas Geschöpfe hin, wenn du sie erschlägst, Kenar.“ Tejon starrte auf das Tor. „Früher konnten wir ihre Seelen heilen, aber unsere Magie ist schwach geworden.“
Auch wenn Michelle sein Gesicht hinter der Maske nicht sehen konnte, hörte sie das Bedauern in seiner Stimme. Sie wandten sich nach rechts und liessen das Tor hinter sich.

Als sie rasteten, gab Imena Michelle, Nick und Gavin jeweils eine Handvoll schrumpliger Pilze. Kenar verzichtete darauf zu essen. Mit schlechten Gewissen aß sie, denn sie dachte daran, wie viel er bei der Feier der Zentauren verschlungen hatte. Unterwegs hielt er sich aber immer zurück. War das die Disziplin eines Kriegers?
Während sie aßen, war Imena aufgestanden und Michelle wusste, dass sie bald weitergingen. Die Steinfrau wandte sich der linken Felswand zu und fuhr mit dem Finger eine der leuchtenden Mineraladern entlang.
„Das ist Amalton, ein Geschenk Saghars.“, sagte Tejon. „Die gesamten Außenwände der Unterwelt, des Palastes und natürlich die Höhle der Verdorbenen enthalten Amalton, weil Geister es nicht durchdringen können.“
Aufmerksam schaute Imena Tejon an.
„Bedeutet das, der Stein selbst wirkt als Barriere? Warum leuchtet er dann?“
„Die Verzauberung diente nur dazu, dass die Geister nicht ahnungslos dagegen rennen.“
„Das ist interessant. Ich bestehe überwiegend aus demselben Gestein.“
„Saghar hat dich besonders gesegnet.“
Einen Moment betrachtete Imena die Felswand, dann entschied sie, dass es Zeit war, weiterzugehen. Michelle raffte sich auf, doch sie fing bald an zu stolpern.
„Ich trag dich“, sagte Nick, als er sie das dritte Mal stützte, damit sie nicht fiel.
„Ich bin zu schwer.“
„Quatsch, das ist gutes Training für mich.“ Er hockte sich vor sie hin.
Michelle gab nach und legte die Arme um seinen Hals, bevor sie fühlte, wie seine Hände sich unter ihre Oberschenkel schoben. Dann stand er auf. Seine Haare kitzelten an ihrer Wange, dennoch spürte sie, dass der Schlaf sie einfing.

Als Michelle erwachte, hatte sie das Gefühl überhaupt nicht geschlafen zu haben. Sie befanden sich in einer klammen Höhle und ihr Kopf lag erhöht. Plötzlich wurde ihr bewusst, worauf sie lag und fuhr auf, dabei weckte sie Nick, der die Gelegenheit nutzte, sich anders hinzusitzen.
„Wie lange hast du mich getragen?“
„Keine Ahnung. Spielt auch keine Rolle.“
Vermutlich nicht, aber Michelle beschämte es, dass sie die Schwächste war und die anderen das ausgleichen mussten. Ihr fiel auf, dass es keine bläulich leuchtenden Adern mehr gab. Nur das Licht von Imena, die im Schneidersitz da saß, als würde sie meditieren, erhellte die Umgebung.
„Möchtest du etwas trinken?“, fragte Damaris.
Michelle nickte. Das Wasser, das ihre Kehle herunterrann, schien kalt wie Eis zu sein, und sie begann nach wenigen Minuten zu frieren. Nick legte den Arm um sie, so dass sein Mantel sie beide umhüllte. Nach kurzem Zögern schmiegte sie sich an ihn. Ihr Herz pochte laut in ihren Ohren, trotzdem schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen.
„Weißt du, warum die Hyänenmenschen dich gefangen genommen haben?“, fragte Imena plötzlich.
Michelle unterdrückte ein Stöhnen, sie hätte es ihnen gleich sagen sollen.
„Aluka weiß von der Prophezeiung und dachte, wir hätten ihren Diamanten schon. Die Hyänenmenschen hatten Befehl ihn und mich zu ihr zu bringen.“
„Haben wir überhaupt jemals über unseren Plan seit dem Verlassen der Insel gesprochen?“, fragte Tejon.
Der Zentaur runzelte die Stirn und sein Misstrauen war ihm deutlich anzusehen. Michelle durchsuchte ihre Erinnerungen, ob sie den Schwarzen Diamanten erwähnt hatten, als Nick und sie alleine waren. Schließlich hatte sich eine Fledermaus in ihrer Nähe aufgehalten, aber die Erschöpfung verschleierte alles.
Imena sagte mit ruhiger Stimme: „Wir waren nicht die ganze Zeit zusammen. Vielleicht hat eine Fledermaus Nick und Michelle belauscht, als sie von uns getrennt waren. Wenn Aluka aber gewusst hat, dass wir nur einen Hinweis gefunden haben, war es dumm von ihr, zuzuschlagen.“
„Ihre Fledermäuse scheinen nicht allzu helle zu sein. Wahrscheinlich haben sie etwas durcheinandergebracht“, meinte Damaris.
Kenar verschränkte die Arme und sein Blick schien zu sagen, dass er davon nicht überzeugt war. Michelle fielen die Augen zu.

Gestalten rannten durch den Wald, flohen vor Häschern, die keine Gnade kannten, und Michelle lief mit ihnen, ohne ihnen helfen zu können. Ein triumphierendes Heulen und eine der blonden Nymphen fiel. Ein Beil wurde hochgerissen.
Jemand schüttelte sie, Michelle riss die Augen auf und schaute in Nicks besorgtes Gesicht.
„Es ist alles gut. Du bist in Sicherheit.“
Er nahm sie in die Arme und wiegte sie wie ein Kind, doch sie träumte erneut von Puppen, die einst lebendig waren, und blutenden Bäume, die lautlos weinten. Am nächsten Morgen fühlte sie sich erschöpft. Als sie aufbrachen, schritt sie unsicher neben Nick her. Die Dunkelheit um sie herum erwürgte jede Heiterkeit, auch Gavin schien nicht er selbst zu sein, und Michelle sah immer wieder die toten Nymphen vor ihrem geistigen Auge. Ab und an schaute sie zu Chalina. Sie hatte ein Recht, es zu erfahren, aber sobald sie sie ansah, wich Michelle ihrem Blick aus.
Bei der nächsten Rast setzte sich Chalina neben sie, während Michelle stur auf den Boden schaute, als hätte sie sie nicht bemerkt.
„Was ist los? Machst du dir Sorgen, dass etwas zwischen Nick und mir geschehen sein könnte, während du weg warst?“
„Nein, das ist es nicht!“ Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ich weiß nur nicht, wie ich damit klarkommen soll, und ich schäme mich, weil ich nicht das Recht habe so betroffen zu sein.“ Zumindest nicht so wie du, fügte sie in Gedanken dazu.
„Ich verstehe nicht.“
„Wir haben tote Nymphen gefunden“, flüsterte Gavin, der in der Nähe saß. „Von den Hyänenmenschen ermordete Nymphen.“
Chalina schwieg einen Moment. „Die meisten meines Volkes können nicht kämpfen. Ich weiß, dass sie Jagd auf uns machen. Zentauren, Satyre und Steingeborene wollen sie fangen, aber wir und die Windgeister sind nutzlos für Aluka.“
Michelle blickte auf. Die Augen der Nymphe schimmerten, als würde sie gerne weinen, doch sie ließ die Tränen nicht zu.
„Ich hoffe, dass einige in den anderen Teil des Waldes fliehen können.“
Michelle nickte und schaute wieder auf den Boden vor sich. Da umarmte Chalina sie.
„Es tut mir leid, dass du in unsere Welt gerissen wurdest.“
Es tat gut, von ihr gehalten zu werden. So musste es sich anfühlen, wenn man eine große Schwester hatte.

Fünf weitere Tage waren vergangen und Michelle versuchte sich, Mut zu zusprechen, aber das war kein langweiliger Ferienort, sondern die trostloseste Gegend, in der sie je gewesen war. Die Dunkelheit schien endlos zu sein und ihre Schritte hallten von den Wänden wieder. Dazu kam der nagende Hunger. Eine Schulkameradin hatte einmal eine Fastenkur gemacht und davon geschwärmt, dass sie voller Energie gewesen war. Michelle dagegen war übel und das lag sicher nicht nur am kalten Wasser. Wenn sie den dunklen Gang vor ihnen nicht mehr ertrug, betrachtete sie ihre Begleiter. Chalina wirkte in ihrem Umhang ebenso verloren wie Gavin. Bei Kenar und Nick traten die Gesichtsknochen stärker hervor. Die einzigen, die nicht litten, weil sie keine Nahrung brauchten, waren Imena, Damaris und Tejon.
Plötzlich sagte Damaris: „Seid wir in der Unterwelt sind, fühle ich mich kräftiger.“
„So geht es mir auch“, meinte Imena. „Scheinbar sind wir hier von dem Magieentzug besser geschützt.“
„Das ist beruhigend“, flüsterte Gavin. „Ich möchte nicht plötzlich im Dunklen stehen.“
Bislang war Michelle das nicht in den Sinn gekommen und sie musterte Imena besorgt. Zum Glück wirkte diese nicht erschöpft und auch ihr Licht brannte ruhig. Nach einiger Zeit nahm sie ein weiteres Geräusch wahr.
Ein Rauschen im Hintergrund.
„Was ist das?“
„Der unterirdische Fluss, aber wir werden ihn erst in vier Tagen erreichen“, antwortete Tejon.
Manchmal hatte Michelle das Bedürfnis zu singen, um ihre Schritte zu übertönen, doch sie unterließ es, denn sie wollte nicht mehr trinken müssen. Nur noch acht Tage musste sie durchhalten, dann hatten sie ihr Ziel erreicht.

„Wir erreichen in wenigen Stunden den unterirdischen Fluss“, sagte Tejon.
Keiner von ihnen antwortete, obwohl jeder wusste, dass sie dann wahrscheinlich Geister sehen würden. Das Rauschen wurde lauter, je weiter sie kamen, und die Luft noch feuchter. Endlich traten sie in eine Höhle. Sie erschien Michelle nach der Enge des Ganges riesengroß, aber wegen der Dunkelheit konnte sie nicht feststellen, ob das Gefühl sie trog. Irgendwo rechts schnellte der Fluss entlang.
Tejon führte sie nach links und auf einmal verlief der Weg nach oben. Imenas Licht verriet ihnen, dass er ungefähr zwei Meter breit war, doch Michelles Herz fing an zu rasen, als der Boden im Dunklen verschwand. Plötzlich bemerkte sie rechts unten leuchtende Gestalten.
„Geister“, flüsterte Gavin.
„Ruhig, selbst wenn sie aufsehen, werden sie uns nicht wahrnehmen.“
Und was ist, wenn direkt aus der Wand einer auftaucht?, fragte sich Michelle und betrachtete unruhig den Felsen. Sie hätte fast Tejon angerempelt, der stehen geblieben war. Vor ihnen klaffte eine etwa drei Meter lange Lücke.
„Ich übernehme das“, sagte Damaris und verknotete seine Bänder miteinander, bevor er ans Ende eine Schlinge machte. „Geht bitte ein Stück zurück.“
Die geworfene Schlaufe fiel über eine armdicke Felsnadel auf der anderen Seite. Damaris befestigte das Band an einem Felsvorsprung und überprüfte, ob das Gestein stark genug war.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich eines Tages die Tragkraft der Bänder eines Windelementars testen würde“, murmelte Imena, schwieg kurz und sprach weiter: „Ich habe mich für folgende Reihenfolge entschieden: Chalina, Gavin, Tejon, Michelle, Nick, dann springt Kenar und ich gehe als Letztes. Damaris, kannst du bitte Michelle hinüberbringen?“
„Ich habe vor, auch die anderen hinüberzubringen“, erwiderte er. „Sie sind schwach vor Hunger und ich möchte keinen deswegen abstürzen sehen. Leider kann ich dir nicht helfen, Kenar.“
„Selbst ein Fohlen schafft diese Strecke.“
Die Stimme des Zentauren klang selbstsicher und Michelle hoffte, dass er sich nicht überschätzte. Während Damaris sich ans Werk machte, spürte sie tiefe Dankbarkeit. Imena schien manchmal zu vergessen, wie empfindlich Wesen aus Fleisch und Blut waren. Nachdem die Nymphe und der Satyr sicher auf der anderen Seite waren, kehrte Damaris zurück und Tejon kletterte hinüber. Michelle bemerkte, wie der Windgeist ihr zulächelte, bevor er sie mit einem Band sicherte.
„Halt dich gut fest.“
Unfähig zu antworten, nickte sie und legte die Arme um seinen Hals. Die Haut des Windgeistes hatte keinen eigenen Geruch. Ihr Herzschlag erhöhte sich, als sie keinen Boden mehr unter den Füßen hatte, doch Michelle schaute nicht in den dunklen Abgrund, der unter ihnen lag, sondern auf Damaris Hände. Sie waren schmal und feingliedrig, dennoch brachten sie sie Griff für Griff weiter.
„Wir haben es gleich geschafft.“
Endlich fühlte Michelle den felsigen Untergrund und atmete vor Erleichterung tief durch, dabei stieg ihr ein starker Ziegengeruch in die Nase. Gavin musste riesige Angst gehabt haben. Rasch entfernte Damaris das Band, um zurückzukehren und Nick zu holen.
Besorgt beobachtete Michelle, wie der Windgeist mit ihrem Freund den Felsen verließ. Zweifellos wog Nick mehr als der feingliedrige Damaris, der auch noch ohne Pause bereits drei Personen getragen hatte. Seine Bewegungen waren langsamer und ihnen fehlte die sonstige Eleganz. Bitte halte durch, flehte sie stumm. Ihr habt es gleich geschafft.
Als die beiden die andere Seite erreichten, bedankte sich Nick mit belegte Stimme und löste selbst das Band, das ihn gesichert hatte.
Während sich Imena dicht an den Felsen presste und den Arm ausstreckte, damit ihr Licht weiterreichte, gab Kenar ihnen mit einem Handwink zu verstehen, dass sie zurückgehen sollten. Dann ging er selbst rückwärts, um Anlauf zu nehmen, und die Dunkelheit verschluckte ihn. Michelle hörte, wie er los galoppierte, und holte tief Atem, als er absprang. Laut flatterte der Umhang in der Luft, bevor die Hufe auf dem Felsen aufschlugen. Von der Kante brach ein Stück ab und Kenar rutschte zurück. Ranken schlangen sich um seine Taille.
„Helft mir!“, keuchte Chalina und sie zogen gemeinsam, bis die Hinterhufe des Zentauren wieder sicheren Halt hatten. Erschöpft sank Michelle auf die Knie und schaute zu anderen Seite. Sie sah, wie Imena ihnen zu nickte, dann erlosch ihr Licht. Ein Schauder überlief sie. Die Steingeborene musste im Dunklen den Abgrund überwinden! Eine Hand tastete nach ihrer und drückte sie, während Michelle angestrengt lauschte. Wenn Imena abstürzte, würde es sich sicher anhören, als ob eine Statue zerbräche.
In ihrer Nähe schlug Stein gegen Stein, dann flammte wieder das Licht auf. Tränen stiegen Michelle in die Augen. Sie hatten es alle geschafft.
„Ich hoffe, das war der einzige Abgrund“, sagte Damaris, „denn ich habe nur noch dieses Band.“
Nachdem sie etwas getrunken hatten, gingen sie weiter. Die Felswand verlief immer stärker nach rechts. Nicht nur das Rauschen des Flusses wurde lauter, auch die Gestalten waren besser zu erkennen. Das letzte Gefühl von Sicherheit verflog, als ihr Pfad abwärts führte.
„Leider liegt der Gang in unmittelbarer Nähe des Flusses. Am Ufer stehen momentan Geister mit dem Rücken zu uns“, sagte Tejon in die Dunkelheit starrend. „Wenn nur einer von ihnen ein stärkeres Gespür für Leben hat, wird er uns bemerken. Wenn das geschieht, kann ich sie auf Abstand halten, aber ich weiß nicht für wie lange.“
„Es ist nicht zu erwarten, dass sie von dort fortgehen. Wir müssen das Wagnis eingehen.“
Michelles Atem wurde flacher und ihr Herz hämmerte in ihrem Brustkorb. Zu viele Wagnisse in letzter Zeit, dachte sie und ließ die Geister nicht aus den Augen, obwohl es klüger gewesen wäre, auf den Weg zu achten. Die Toten leuchteten in einem blauweißen Schimmer und waren durchsichtig wie feiner Stoff. Jetzt erreichte Imenas Licht sie, aber sie reagierten nicht darauf. Sie waren im Anblick des Flusses versunken. Die Reflexionen schienen auf den Wellen zu reiten und Michelle verstand ein bisschen, warum die Geister hier waren. In einer Welt aus starrem Stein wirkte der Fluss fast wie ein Lebewesen. Brüllend jagte er dahin.
Irritiert fragte sie sich, wie die Geister das wahrnehmen konnten, wenn sie keine Sinne hatten. Später wollte sie Tejon danach fragen. Nur noch wenige Schritte. Plötzlich versteifte sich die Nymphe, an der sie vorbeigingen, und wie auf ein Kommando drehten sich alle um. Mit verzerrten Gesichtern näherten sich die Geister wie eine Welle.
„Eindringlinge! Betrüger!“ Unzählige Stimme hallten in ihrem Kopf.
„Zurück!“
Während die Geister raunend stehen blieben, eilten sie zu dem schmalen Tunnel. Zum Glück war er leer und dank ein paar Amalton-Adern nicht völlig dunkel.
„Geht vor“, sagte Tejon.
Imena und Kenar übernahmen die Vorhut. Der Zentaur fluchte, denn die Decke war so niedrig, dass er sich ducken musste. Als Michelle einen Blick über die Schulter warf, sah sie, dass die Geister nicht aufgegeben hatten. Sie folgten ihnen wie ein Rudel Löwen, das auf seine Chance wartete. So rasch sie konnten, gingen sie durch den Gang, während eine Stimme, von der Michelle überzeugt war, dass es ihre eigene war, in ihr flüsterte: Sinnlos, sinnlos. Zum Palast der Unterwelt waren es vier Tage. Tränen stiegen ihr in die Augen. Dabei waren sie soweit gekommen!
Als der Totengeist nach einigen Stunden zu schwanken begann, sagte Imena: „Es tut mir leid, ihr müsst alleine weitergehen. Ich bleibe hier, um ihnen den Weg zu versperren. Tejon, gib mir die Zeit, die ich brauche.“
Er drückte sich an die Wand, damit Imena vor ihn treten konnte. Das aufgeregte Zischen der Geister ignorierend streckte Imena die Hände aus, um die Amalton-Adern zu berühren. Während das Leuchten um ihre rechte Hand schwächer wurde, glich sie immer mehr einer leblosen Statue. Schließlich erlosch das Licht der Steingeborenen vollständig und Michelle konnte nur dank der glimmernden Mineraladern schemenhaft erkennen, dass Tejon über den Stein strich.
„In dieser Form ist sie sicher.“
„Wird sie wirklich am Leben bleiben?“
„Ja, ihr Lebensfunken hat sich tief in den Stein zurückgezogen. Die Hände der Geister können ihn dort nicht erreichen.“
„Ich frage mich, wer der nächste sein wird“, flüsterte Gavin und ließ den Kopf hängen. „Es war ein Fehler, in die Unterwelt zu kommen.“
„Du wärst also lieber eine Kreatur Alukas geworden?“, fragte Kenar voller Verachtung.
„Kommt, gehen wir weiter.“ Die Stimme der Nymphe klang kraftlos.
Von ihnen allen sah sie am kränksten aus. Ihre Haut hatte einen leicht gelblichen Farbton angenommen, das einst wunderschöne Haar fiel ihr stumpf und strähnig auf die Schultern und sie ging nach vorne gebeugt wie eine alte Frau.

Später legten sie sich in einer kleinen Höhle zum Schlafen nieder, während Tejon Wache hielt. Wenn Michelle aus ihren Träumen aufschreckte, blickte sie als erstes in seine Richtung, um festzustellen, ob er Geister zurückhalten musste.
„Ich habe eine Entscheidung getroffen“, sagte Chalina, als sie aufbrechen wollten.
Langsam, nein kraftlos, stand sie auf und lächelte Michelle an.
„Es tut mir leid, ich hätte dich gerne noch weiter beschützt, aber du musst ohne mich diesen Weg zu ende gehen.“
Michelle erstarrte. Wollte die Nymphe etwa aufgeben und zurückbleiben?
„Chalina, wir haben es bald geschafft! In drei Tagen sind wir da.“
Die Nymphe schien sie nicht zu hören.
„Ich weiß, dass ich Dinge getan habe, die unentschuldbar sind. Ich wünschte, ich hätte dafür um Verzeihung bitten können.“ Sie schüttelte den Kopf. „Keine Zeit für Selbstmitleid.“
„Was hast du vor?“
Eine Hand hielt sie zurück, während Chalina den Umhang von sich warf und die Arme hochstreckte. Ein grünes Leuchten umhüllte ihre Gestalt, die sich zu strecken begann und Zweige bekam. Als das Leuchten aufhörte, stand ein kleiner Baum mit roten Früchten da. Tränen liefen Michelle über die Wangen, denn sie erinnerte sich, dass Nymphen, sobald sie sich verwandelt hatten, eine Zeitlang so bleiben mussten.
„Nehmen wir Chalinas Geschenk an“, sagte Kenar, pflückte einen Granatapfel und öffnete die Schale mit einem Messer, bevor er ihn etwas auseinanderbrach und Michelle hinhielt. „Iss.“
Sie schüttelte den Kopf und trat zurück. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Gavin zögerlich eine aufgeschnittene Frucht von Damaris annahm.
„Lass Chalinas Opfer nicht vergebens gewesen sein.“
„Rede nicht so, als wäre sie bereits tot, Tejon!“, sagte Damaris und zum ersten Mal hörte Michelle Wut in seiner Stimme. „Wenn wir die Regentin oder einen Totengeist erreichen, können wir für sie und Imena um Hilfe bitten. Pflücken wir also die restlichen Früchte und machen uns rasch auf den Weg.“
„Wir müssen sie wirklich zurücklassen?“
Damaris hielt mit dem Ernten inne, um sie anzuschauen. „Sie hat alle Kraft aufgewendet. Eine Rückverwandlung wäre erst in vielen Tagen möglich.“
„Ist sie als Baum sicher?“, wollte sie von Tejon wissen.
„Ja.“
Die Antwort kam schnell. Zu schnell. Ein Baum ist ebenso ein Lebewesen wie ein Mensch, dachte Michelle.
„Lügner. “
„Das war eine Lüge, damit du nicht leidest.“
„Das spielt keine Rolle.“
„Wenn du fähig bist, meine Worte als Lüge zu erkennen, kanntest du die Wahrheit bereits, bevor du die Frage gestellt hast.“
Er hatte recht. Inzwischen hatte Kenar den Granatapfel Nick gegeben und einen zweiten geöffnet.
„Michelle, bitte iss ihn“, flehte Nick, als er die leere Schale fallenließ. Der Hunger brannte noch wie ein hungriges Feuer in seinen Augen.
Aufschluchzend streckte Michelle die Hand aus. Die Oberfläche fühlte sich fast lederartig an und sie schaute auf die roten, kleinen Kerne. Wie erstarrte Blutstropfen, dachte sie, bevor sie welche nahm, die Augen schloss und sie sich in den Mund schob. Sie schmeckten säuerlich-süß.
Nachdem sie die Früchte geerntet hatten, brachen sie auf. Schweigend reichten Damaris und Kenar ihnen weitere Granatäpfel und Michelle war erleichtert, dass der Zentaur zwischendurch selbst aß. Auf einmal endeten die Amalton-Adern und der Gang vor ihnen lag in undurchdringlicher Finsternis.
„Ich kann im Dunklen sehen“, sagte Tejon, „und werde auf den Weg achten. Verzagt nicht, denn wir erreichen in einigen Stunden die Höhle des Friedens, wo es wieder Licht für eure Augen gibt.“
Sie tauchten ein in die Finsternis. Ab und an hörte Michelle, wie Tejon Steine zur Seite schob oder ihnen sagte, an welcher Wand sie gehen sollten. Sie würden nur langsam vorankommen.
„Ich Trottel!“, fluchte Nick.
Es klirrte metallisch und sie vernahm ein kurzes Zischen, dann spendete eine kleine Flamme etwas Licht. Auch Michelle hatte vergessen, dass Nick immer ein Feuerzeug bei sich führte, obwohl er Nichtraucher war. Scheinbar kam das bei den Frauen gut an. Wie lange mochte so ein Feuerzeug brennen?
„Was ist das?“, fragte Kenar mit einer eigenartigen Stimme.
„Ein Feuerzeug.“
Michelle hielt den Atem an, aber der Zentaur wandte sich ab und sie gingen weiter. Zum Glück hatte Nick den Ton nicht bemerkt. Wieso war Kenar so misstrauisch? Als ob Nick den Heiligen Baum angezündet hätte!

Am Ende des Tunnels leuchtete es hell und sie betraten eine riesige Höhle, die so groß war, dass sie die gegenüberliegende Wand nicht sehen konnten.
„Wie ihr seht, ist selbst die Höhle des Friedens Opfer des Magieentzugs. Dies war einst der schönste Ort der Unterwelt, wo die Seelen der Toten ein fast normales Leben geführt haben, denn unsere Göttin Ameya erschuf ein Ebenbild der Welt der Lebenden. Die Verstorbenen konnten über Wiesen laufen und es gab Tag und Nacht.“
Michelle konnte sich das kaum vorstellen. Alles, was sie sah, war eine karge Felslandschaft. An der Decke flogen Lichter umher, die sie an kleine Kometen erinnerte.
„Was sind das für Lichter?“
„Das sind die Seelen jener, die bereit sind, wiedergeboren zu werden.“
„Es sind so viele.“
Tejon nickte. „Es stehen nicht genug Körper zur Verfügung. Seelen, die diese Form angenommen haben, sind friedfertig, aber halten wir uns trotzdem von ihnen fern, falls sie herunterkommen sollten. Vielleicht macht die Anwesenheit von Lebendigen selbst sie rastlos. Auch sie können uns nicht sehen.“
Während sie weitergingen, warf Michelle immer wieder Blicke nach oben. Die weißsilbernen Lichter schwebten elegant durch die Luft wie Fische, die durch das Meer glitten. Von hier aus gab es keinen Unterschied zwischen ihnen.
„Bleibt eine Nymphe immer eine Nymphe oder kann sie beispielsweise als Windgeist wiedergeboren werden?“
„Nein, Elementare bleiben ihrem Element treu. Übrigens gibt es keine Windgeister in der Unterwelt.“
„Warum nicht?“
„Windgeister haben ganz feine Seelen. Sie werden in den Winden geboren und vergehen auch nach Jahrtausenden mit dem Wind, bevor sie ohne Erinnerung an ihr voriges Dasein neu entstehen.“ Tejon schaute Damaris an. „Die Regentin findet euch Windgeister faszinierend.“
Während Damaris aussah, als wüsste er nicht, was er darauf antworten sollte, lachte Kenar. „Vielleicht wird Herrin Keshia unser Anliegen mit freundlicheren Augen betrachten, wenn sie dich sieht.“
Michelle betrachtete Kenar und Gavin. Sie waren keine Elementare und hatten vor derselben Göttin gekniet, aber vermutlich würde der Zentaur toben, wenn sie fragte, ob bei ihnen ein Rassenwechsel möglich war.

Vor ihnen lag eine Stadt, über der eine beeindruckende Festung aufragte, die bläulich schimmerte. Amalton, dachte Michelle. Der Palast der Unterwelt schien völlig aus Amalton zu bestehen.
„Du willst uns durch die Stadt führen?“, fragte Damaris besorgt.
„Es gibt keinen anderen Weg als die Brücke, die über den unterirdischen Fluss führt“, erwiderte Tejon.
„Keine Geheimgänge?“ Nicks Stimme klang ungläubig.
„Wozu? Wir benötigen keine, denn weder Götter noch Totengeister sind auf Türen angewiesen.“
„Wären wir doch bloß schon aus der Unterwelt raus“, hauchte Gavin.
Innerlich stimmte Michelle ihm zu, aber das Ziel so nah vor Augen zu haben, gab ihr Zuversicht. Außerdem hatte Tejon die Geister vom Fluss lange von ihnen fernhalten können. Sie mussten nur schnell genug sein, dann waren sie in Sicherheit.
Vorsichtig bewegten sie sich auf die Stadt zu. Tejon ging vor ihr, Kenar bildete die Nachhut, Damaris sicherte ihre rechte Seite und Nick und Gavin liefen zu ihrer Linken. Die Stadt besaß keine Mauer und wirkte verlassen. Wie Michelle erwartet hatte, waren alle Häuser aus Stein, aber ihre Fassaden waren mit kunstvollen Fresken geschmückt und sie erkannte verblasste Farben. Einst musste diese Stadt ein Ort gewesen sein, der jeden Architekten entzückt hätte. Sie hörte ein leises Geräusch zu ihrer Linken, Gavins Kiefer bewegte sich kaum sichtlich. Ihren Blick bemerkend, versuchte er zu lächeln und Michelle sah, wie seine Zähne aufeinander schlugen. Sie streckte die Hand aus und er ergriff sie.
Auf einmal schrie eine Stimme in ihren Kopf: „Da sind Lebende in unserer Stadt.“
„Lauft!“, befahl Tejon und sie folgten ihm, während aus den Mauern der Häuser Geister kamen. Weil sie nicht sehen konnten, liefen sie manchmal zuerst in die falsche Richtung, bis irgendein Geist Anweisungen rief. Das Schloss schien so nah und doch so fern zu sein. Sie bogen um die Ecke und vor ihnen war die Gasse komplett versperrt.
„Gebt den Weg frei!“, befahl Tejon. „Möchtet ihr nicht, dass die Höhle des Friedens wieder so wird, wie sie einst war?“
„Das wird nie geschehen“, flüsterte eine Zentaurengestalt. „Sie würde unserer Göttin zu viel Kraft kosten.“
„Die Steingeborene Imena hat prophezeit, dass dieses Menschenmädchen mit Hilfe eines magischen Artefakts unsere Welt retten wird.“
Ein Menschenmädchen, berichtete Michelle ihn in Gedanken, richtete sich jedoch auf und versuchte, selbstbewusst zu lächeln. Umsonst, der Zentaur schaute sie nicht einmal an.
„Das ist unmöglich“, erwiderte er.
„Was, wenn er die Wahrheit sagt?“, fragte die Zentaurin neben ihm, während eine Nymphe sie mit schief gelegtem Kopf musterte.
„Wer die Unterwelt betritt, obwohl er noch am Leben ist, muss ein großes Ziel verfolgen.“
Unter den Geistern entbrannte ein Kampf und sie nutzten die Gelegenheit, um weiterzulaufen. Sie gelangten auf die Hauptstraße und endlich konnte Michelle das Tosen des Flusses hören, da bemerkte sie, dass eine Gruppe auf sie zukam. Erst auf den zweiten Blick sah sie, dass sie nicht wie Gespenster leuchteten, und schaute Tejon an.
„Scheinbar hat uns jemand von der Palastmauer aus gesehen.“
Sie eilten der Einheit aus sieben Männern entgegen. Wie Tejon trugen sie schwarz, aber sie verbargen ihre Gesichter nicht hinter Masken.
„Die Regentin hat uns geschickt, damit wir euch helfen“, sagte der Totengeist, der die Truppe führte.
„Ihr kommt gerade rechtzeitig. Wir müssen dringend mit ihr sprechen.“
Die Totengeister schirmten sie ab und sie näherten sich der breiten Steinbrücke. Rechts und links von ihr blickten Geister auf den Fluss nieder. Als sie Michelle und ihre Freunde bemerkten, raunten sie zwar wütend, machten jedoch keinen Versuch, sie zu bedrängen. Verwirrt blinzelte sie. Hatte gerade das Gesicht des Totengeist zu ihrer Rechten geflimmert? Aus dem Augenwinkel beobachtete sie ihn. Ja, tatsächlich. Als wäre er ein Hologramm, dessen Projektor Stromschwankungen hatte. Tejon hatte ja erzählt, dass sie normalerweise keine richtigen Körper hatten.
Der Totengeist drehte den Kopf und lächelte sie an. Erleichtert, dass er ihr die Musterung nicht übelnahm, lächelte Michelle zurück und schaute dann über die Brüstung. Viele Meter unter ihnen toste der unterirdische Fluss durch eine Schlucht. Sobald sie durch das Tor getreten waren, rasselte ein Fallgitter mit dem vertrauten bläulichen Schimmer herunter.
Der riesige Hof war mit Steinplatten gefliest und sie schritten zur Treppe auf der anderen Seite, um ein weiteres Tor zu erreichen. Als sie den Palast der Unterwelt betraten, fragte Michelle sich, ob Götter größer als Menschen waren, denn der Flur war nicht nur breiter als eine dreispurige Straße, sondern mindestens so hoch wie ein eingeschossiges Haus. Sie fühlte sich wie eine kleine Ameise.
Die Totengeister führten sie in den Thronsaal, in dem auf einem Podest zwei – normalgroße – Throne standen. Neben dem Rechten wartete eine wunderschöne, schwarzhaarige Frau.
Während Tejon sich vor ihr verneigte, ergriff Damaris das Wort. „Wir danken Euch für unsere Rettung, Herrin Keshia, aber zwei unsere Gefährten befinden sich noch in eurem Reich und eine ist in größter Gefahr.“ Knapp schilderte er, weshalb Imena und Chalina zurückgeblieben waren.
„Richte dich auf, Tejon“, sprach die Regentin und winkte gleichzeitig eine Wache heran. „Schickt Totengeister voraus, um die Nymphe bis zum Eintreffen der Diener zu schützen. Sie sollen einen Kreis aus Amalton um sie legen und Imena in die Festung zu bringen.“
„Jawohl, Regentin.“ Nachdem Tejon den Tunnel genannt hatte, wo sich ihre Freunde befanden, eilte der Wachmann hinaus. Hoffentlich ging es Chalina gut.
„Warum seid ihr in die Unterwelt eingedrungen?“, fragte Keshia, nachdem sie sie gemustert hatte. Besonders lange lag ihr Blick dabei auf Damaris, Nick und ihr. Michelle hatte das Gefühl, als ob die Regentin nicht ihr Äußeres prüfte, sondern … ihre Seelen?
„Wir glauben, dass das Artefakt, das die Erwählte den Göttern bringen soll, in der Schatzkammer unserer Göttin liegt.“
Erneut betrachtete Keshia Michelle.
„Ich kann nicht beurteilen, ob ihr recht habt. Selbst ich habe sie nie betreten.“
„Bitte seht nach oder gebt uns den Schlüssel.“
Die Regentin wandte ihnen den Rücken zu und schwieg eine Weile, bevor sie sich wieder umdrehte. „Michelle, ich möchte dich alleine sprechen.“
Stumm nickte sie und folgte Keshia durch einen weiteren hohen Flur. Sie betraten einen Raum mit einem runden Steintisch. Nachdem sie sich gesetzt hatten, sagte die Regentin: „Ich sehe eine verwundete Gruppe, die ihre Anführerin verloren hat. Kannst du diese Aufgabe übernehmen?“
Michelle hatte so etwas noch nie getan, sondern sich immer nach Nick gerichtet. Das bewies, dass sie keine Führungspersönlichkeit war.
Die Regentin sprach weiter: „Durch einen Verlust kann sich ein Wesen ändern. Entweder es wird stärker oder schwächer.“
„Ich möchte gerne stärker werden“, flüsterte Michelle, „aber das kann man sich nicht aussuchen.“
„Da irrst du dich. Wer sich dazu entschließt und sein Bestes gibt, geht bereits einen Schritt mehr als jener, der aufgibt.“
Michelle dachte über diese Worte nach. Sie kamen ihr wie ein Motivationsspruch vor, denn Menschen schafften es, immer wieder an denselben Dingen zu scheitern. Egal, ob es ums Abnehmen, Rauchen abgewöhnen oder mehr Sport ging. Sie dachte an die Nymphe, die ihr Leben riskiert hatte und vielleicht schon tot war. Michelle wollte, dass sie wiedergeboren werden konnte.
„Ich werde diese Prophezeiung erfüllen.“
Abrupt stand Keshia auf und mit klopfenden Herzen folgte sie ihr. Sie wusste, dass die Regentin eine Entscheidung getroffen hatte. Im Thronsaal nahm Michelle wieder ihren Platz ein, während sich Keshia neben den Thron stellte.
„Nur die Erwählte und Tejon dürfen die Schatzkammer betreten.“
„Das kommt nicht in Frage!“, rief Nick aus.
„Ich lasse nicht mit mir verhandeln.“ Keshia sah ihn maßregelnd an und Michelle ergriff seinen Arm.
„Ich bin damit einverstanden.“
„Steigt dir dieses Auserwähltsein zu Kopf?“, zischte Nick ihr verärgert zu und sie zuckte zusammen. Seine Stimme hatte so gemein geklungen!
Inzwischen war eine weitere Frau eingetreten. Sie trug ein einfaches, beiges Kleid mit dazu passenden Handschuhen und ihr fuchsrotes Haar hochgesteckt.
„Ihr habt einen beschwerlichen Weg hinter euch“, sagte Keshia. „Halina wird euch in eure Zimmer bringen.“
„Bitte kommt mit mir.“
Zum Abschied verbeugten sie sich vor der Regentin und folgten Halina. Sie führte sie durch einen Gang bis zu einer Treppe. Die Stufen waren so flach und tief, dass Kenar sie mühelos besteigen konnten.
„Hast du keine Angst?“, raunte Nick. „Normalerweise sind Schatzkammern mit Fallen gesichert.“
„Das glaube ich nicht. Wer würde es wagen, eine Göttin zu bestehlen?“
Nick antwortete nicht und Michelle konnte kaum fassen, dass er jetzt versuchte, ihr Angst einzujagen, nachdem was er ihr im Thronsaal vorgeworfen hatte.
Sie erreichten den dritten Stock. In diesem Bereich der Festung gab es Türen aus hellem Holz, durch das sich feine Risse zogen.
Halina sagte: „Die Gemächer zur Linken sind für euch vorgesehen. Sie führen alle auf denselben Balkon, von dem man einen fabelhaften Blick auf die Stadt hat. Das letzte Zimmer hat wunderschöne Fresken von Vögeln, die der Erwählten gewiss gefallen werden.“
Fast erwartete Michelle einen herablassenden Kommentar von Nick, aber er verkündete nur: „Dann nehme ich das Zimmer direkt daneben.“
„Geht bitte noch nicht schlafen. Ich bringe euch gleich Schlafkleidung, damit ich eure reinigen kann“, sagte Halina, als Kenar seine Hand auf den Türgriff legte.
Der Zentaur grinste. „Mich betrifft das ja nicht.“
Einer nach dem anderen verschwand in einen der linken Räume. Bevor sie den erreichten, den Nick gewählt hatte, zwang Michelle sich zu einem Lächeln.
„Bis morgen, Nick. Schlaf gut.“
„Du auch“, antwortete er.
Während Halina davonhuschte, betrat sie das Zimmer. Nachdem Michelle die Tür geschlossen hatte, fühlte sie sich seltsam alleine und schlang die Arme um sich. Sie blieb stehen, denn sie befürchtete, im Sitzen einzuschlafen. Wenn sie heimkehrten, wären die ersten Nächte bestimmt komisch. Niemand würde in ihrer Nähe atmen. Erschöpft betrachtete sie die linke Wand, die eine Waldlichtung zeigte. Ein Pfau schlug auf ihr sein Rad und weitere Vogelarten saßen in den Zweigen, duckten sich zwischen Blumen oder flogen herum. Der Steinbildhauer hatte verzichtet, für die amaltonhaltige Wand Farben zu verwenden. Hoffentlich waren sie bald wieder an der Oberfläche.
Als es klopfte, öffnete sie sofort die Tür und Halina wirkte einen Moment erschrocken, dann reichte sie ihr lächelnd ein Nachtkleid. Der weiche Stoff überraschte Michelle. Nachdem sie sich schnell umgezogen hatte, gab sie Halina ihre Kleidung.
„Kann ich noch etwas für dich tun?“
Michelle schüttelte den Kopf, bevor sie fand, dass diese Geste unhöflich war.
„Nein, vielen Dank.“
Halina lächelte.
„Schlaf gut. Morgen früh werde ich dafür sorgen, dass ihr ein warmes Bad im Raum gegenüber bekommt.“
„Das wäre wunderbar. Danke sehr, Halina.“
Michelle schlug die Decke zurück und drückte ihre Handfläche gegen die Matratze. Sie gab stark nach, aber das brachte sie zum Lächeln. Vielleicht träumte sie ja, dass sie über Wolken lief. Sie schlüpfte aus den Schuhen, als auf einmal die Tür geöffnet wurde. Nick stand im Türrahmen und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Sie bekämpfte ein Grinsen. Wie sie trug er ein langes Schlafgewand.
Wortlos kam er näher und Michelle erstarrte. Was wollte er? Nun stand er direkt vor ihr und sie schaute zu ihm auf, während ihr Herzschlag sich beschleunigte. Sie konnte weder etwas sagen noch sich bewegen, aber deutlich spürte sie Angst, die sich in ihrem Herzen wie eine aufgeweckte Giftschlange regte. Wollte er in seiner Notlage mit ihr vorliebnehmen?
„Die anderen haben ein geheimes Treffen“, flüsterte er. „Komm.“
„Wie bitte?“
Er rollte mit den Augen.
„Ich will, dass wir sie belauschen.“
„Ich glaub nicht, dass wir uns anschleichen können.“
„Probieren wir es. Lass die Schuhe hier.“
Michelle setzte einen Fuß auf die kalten Fliesen und war wütend, dass sie bei diesem Spiel mitmachte, doch sie kam besser mit. Ohne Schuhe konnten sie sich leise bewegen und schlichen auf den Balkon. Sie streckte den Kopf, um in Damaris‘ Raum zu spähen. Nick hatte recht gehabt; er war leer. Auch in den nächsten beiden war keiner. Also blieb nur noch das Zimmer von Kenar übrig.
„Ich verstehe nicht, warum ihr keinen Anführer wählen wollt“, hörte sie den Zentauren frustriert sagen, als sie sich seinem Fenster näherten. Da die Fenster einfache Öffnungen im Stein waren, würden sie das Gespräch gut verfolgen können, wenn man sie nicht entdeckte. Michelle wollte nicht darüber nachdenken, was für einen Vertrauensbruch sie gerade begingen.
„Wir brauchen keinen“, antwortete Tejon.
„Totaler Unsinn, vor allem von einem Totengeist. Jemand muss die Entscheidungen treffen.“
„Der, der den jeweiligen Ort am besten kennt, sollte uns auch hindurchführen. Was generelle Entscheidungen betrifft, richten wir uns nach Michelle.“
Ein Schauer überlief sie. Wie konnte Damaris das sagen?
„Sie ist keine Anführerin.“
„Doch ist sie die Erwählte.“
„Jetzt übertreib es nicht, Damaris! Ich setze auch alles auf diese Prophezeiung, aber niemand sollte einem Fohlen folgen.“
Michelle hörte Hufklappern.
„Wo willst du hin, Gavin? Wir sind noch nicht fertig.“
„Austreten.“
Kenar schnaubte: „Komm nicht auf dumme Ideen.“
„Das wird er hier kaum können.“ Tejons Stimme klang kalt.
„Was soll das?“
„Wir wissen alle, dass du Michelle verraten hast. Den Spuren nach wolltest du dich feige davonschleichen, aber du wurdest erwischt.“
Gavin schwieg einen Moment, dann sagte er: „Tut nicht so, als seid ihr viel besser als ich. Wir alle haben den Zauber gewirkt, der die beiden hierher brachte. Ihnen ginge es gut, wenn sie sicher daheim wären!“
Sie wich zurück, während Nicks Kiefer sich anspannte, aber er stürmte nicht in den Raum, um die anderen zu Rede zu stellen, sondern zog sie fort. Sie kehrten in ihr Zimmer zurück und Michelle ließ sich auf das Bett sinken.
„Ich wusste, dass wir ihnen nicht vertrauen können.“
Nick schien tatsächlich so etwas wie Triumph zu empfinden, während sie sich verraten fühlte. Sie hatte alle liebgewonnen, aber sie hatten sie … gekidnappt. Wie sollte sie morgen reagieren, wo sie wusste, dass sie nicht nur auf Michelle gewartet hatten? Sie hatten sie aktiv aus ihrer Welt gerissen.
„Wenn wir hier lebend rauskommen, müssen wir uns von ihnen trennen und uns alleine durchschlagen“, fuhr Nick fort.
Erstaunt schaute sie ihn an.
„Im Gegenteil, wir müssen bei ihnen bleiben, denn was sie getan haben, ändert nichts daran, dass wir in dieser Welt hilflos sind.“
„Wir schaffen das schon.“
„Nein!“ Wütend stand Michelle auf und sah ihm in die Augen. „Was willst du tun, wenn wir Hyänenmenschen begegnen?“
„Die haben längst unsere Spur verloren und wir sind im Schleichen echt gut geworden.“
„Ach, geh auf dein Zimmer!“
Verwirrt musterte er sie. „Was ist auf einmal mit dir?“
„Ich bin verdammt müde und will endlich ins Bett.“
„Also gut, reden wir morgen weiter.“
Nachdem er gegangen war, warf sie sich die Decke über den Kopf. Trotz ihrer aufgewühlten Gefühle kehrte die Erschöpfung zurück und sie schlief innerhalb weniger Atemzüge ein.

Als Michelle die Augen aufschlug, rührte sie sich nicht und war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Stattdessen starrte sie die Decke an und spürte, wie ihr Tränen über die Haut liefen, bis sie im Haaransatz versickerten. Langsam schloss sie die Augen wieder und erinnerte sich an ihre Eltern. An ihr oberflächiges Leben auf der Erde, denn es konnte nichts anderes gewesen sein. Dann stiegen Bilder von Chalina in ihrem Geist auf und sie warf sich herum, um ihr Gesicht im Kissen zu vergraben. Still schluchzte sie vor sich hin, bis es eindringlich an der Tür klopfte. Sie wischte sich die Tränen ab und hoffte, dass ihre Stimme normal klänge.
„Wer ist da?“
„Halina, das Bad ist bereit.“
„Danke, ich komme.“
Sie schlüpfte in ihre Schuhe und tapste zur Tür. Falls die Dienerin merkte, dass sie geweint hatte, ließ sie sich nichts anmerken und führte sie zum Raum gegenüber. Er hatte keine Fenster und wurde durch das Amalton erhellt. Das Wasser in der Steinwanne dampfte und ordentlich zusammengefaltet lagen ihre Kleidung und ein Handtuch auf der Bank daneben. Der Wasserhahn am Fuße der Wanne sah aus wie eine dieser Wasserpumpen im Garten, die so schrecklich quietschen konnten.
„Ist das Wasser warm genug?“, erkundigte sich Halina.
Michelle streckte die Hand darüber und zog sie gleich wieder zurück. Einige Menschen liebten es, heiß zu baden, aber sie gehörte nicht dazu.
„Alles in Ordnung.“
„Dann lasse ich dich jetzt alleine.“
Nachdem die Dienerin die Tür geschlossen hatte, ging Michelle zu ihrer Kleidung und schüttelte das Kleid aus. Obwohl es keine Schmutzflecken mehr hatte, war das Weiß stumpf geworden. Schulterzuckend legte sie es zurück. Als sie schließlich in die Wanne stieg, verzog sie das Gesicht, doch nach einer Weile gewöhnte sich ihr Körper an die Wärme und sie atmete tief durch. Sie rieb sich mit den bloßen Händen über die Haut, um den Schmutz zu entfernen. Selbst im schwachen Schein des Amaltons bemerkte sie, wie trübe das Wasser wurde.
Als Michelle erfrischt das Bad verließ, huschte Halina hinein. Vermutlich, um das Wasser abzulassen und die Wanne für den nächsten Bedürftigen vorzubereiten. An der Wand lehnte Nick, der anscheinend bereits gebadet hatte. Vielleicht verbarg sich hinter einer der anderen Türen auf der rechten Seite ein weiteres Badezimmer? Einige Meter hinter Nick wartete Tejon auf sie.
„Guten Morgen, Michelle. Geht es dir besser?“
„Ich war nicht krank.“
„Das wollte ich auch nicht damit sagen.“ Er lächelte. „Nur kann ich mich nicht erinnern, dass du je deine Gefühle so deutlich gezeigt hättest. Können wir kurz sprechen?“
Sie nickte, rief Tejon zu, dass sie gleich käme, und folgte Nick in seinen Raum.
„Was hast du jetzt vor, Michelle?“, fragte er, nachdem er die Tür geschlossen hatte.
Sie dachte an Chalinas letzte Worte, bevor sie sich in einen Baum verwandelt hatte. Nicht der Schmerz des Verrats verkrampfte ihr Herz.
„Ich werde mein Bestes geben, um diese Welt zu retten“, flüsterte sie.
Nick ballte die Hände zu Fäusten.
„Das ist lächerlich. Sie haben uns das Ganze eingebrockt.“
„Ich … vergebe ihnen.“
„Das kann ich nicht. Seit fast einen Monat sind wir hier und schlagen uns mit fremden Problemen herum. Wir wurden gejagt und sind beinahe verhungert.“
„Egal, was du sagst, ich tue es.“
„Warum willst du die Heldin spielen?“
„Das hört sich vielleicht für dich komisch an, aber ich respektiere jeden aus unserer Gruppe. Sie hätten nicht ihr Leben riskieren müssen und Chalina hat sogar ihre Werte beiseitegeschoben, um ihrer Welt zu helfen.“
„Leidest du an diesem Kidnapping-Syndrom? Sie haben uns aus unserem Leben gerissen. Wir schulden ihnen nichts.“
„Ich weiß das, aber ich möchte ihnen helfen.“
Verblüfft schaute Nick sie an.
„Ich verstehe dich kein bisschen.“
„Tut mir leid, dass ich das nicht besser erklären kann. Ich gehe jetzt. Bis später.“
Sie verließ das Zimmer und ging mit Tejon in den Thronsaal, wo die anderen bereits versammelt waren. Verlegen begrüßte sie sie. Sie hatte gedacht, sie wäre die erste gewesen, die Halina geweckt hatte, dabei hatten die anderen auf sie gewartet.
„Du siehst wunderschön aus“, flüsterte Gavin und sie lächelte ihm zu, bevor sie sich der Regentin zuwandte, die gerade die Treppe herunterschritt. Auf einmal hörte Michelle Laufschritte.
„Scheinbar will auch der Letzte deiner Gefährten dir Glück wünschen“, seufzte Keshia.
Das wäre Michelle am liebsten, doch sie zweifelte daran, dass das der Grund für sein Kommen war. Ihren flehentlichen Blick ignorierend, packte Nick ihre Hand und zog sie dicht neben sich.
„Ich werde doch mitgehen.“
Damaris seufzte. „Hatten wir uns nicht gestern darauf geeinigt, dass Tejon und Michelle alleine gehen?“
„Da haben wir etwas auch noch nicht gewusst.“
Nick funkelte ihre Begleiter wütend an, aber zu ihrer Überraschung sprach er nicht aus, was sie erfahren hatten. Auf einmal dachte Michelle: Das ist meine Chance. Vor mir darf es keine Geheimnisse geben. Ein Teil von ihr erschrak über diesen Gedanken und der andere schämte sich, weil er ihr irgendwie niederträchtig vorkam.
„Wir wissen, dass ihr uns hergeholt habt, dennoch“, Sie schaute Nick an, „brauchst du mich nicht zu begleiten.“
Sie erkannte an Nicks angespanntem Unterkiefer, dass er die Zähne zusammenbiss. Wütend sah er Tejon an.
„Pass ja gut auf sie auf!“
„Das brauchst du nicht zu betonen.“
„Wartet“, sagte Damaris, „es wird Zeit, euch alles zu sagen.“
Tejon schüttelte den Kopf. „Das ist nicht der richtige Zeitpunkt.“
„Es gibt also noch mehr schmutzige Geheimnisse“, zischte Nick.
„Sprich weiter, Windgeist“, forderte die Regentin ihn auf.
„Die Welt, die von unserer getrennt gehalten wird, ist die eure und sie existiert nur durch uns. Vor langer Zeit lebten eure Vorfahren auf Pheria, doch die Götter befürchteten, dass es irgendwann zu Kriegen zwischen den magischen und nichtmagischen Geschöpfen käme. Auch wart ihr besonders Opfer von Aluka. Unsere Götter schufen eine magische Kugel und sandten alle nichtmagische Geschöpfe hinein. Saghar wurde bestimmt sie zu tragen und am Anfang genügte es, wenn zwei andere Götter ihn bei seiner Arbeit unterstützten, doch der Magieverbrauch stieg ständig.“
Während Michelle sich versuchte das vorzustellen, starrte Nick Damaris fassungslos an.
„Haltet ihr uns für blöde? Das ist unmöglich.“
„Es ist die Wahrheit“, sagte Keshia. „Wenn unsere Welt fällt, wird eure mit untergehen und wir sprechen nicht mehr von Jahrzehnten. Der tote Heilige Baum hat eine riesige Lücke in der Magie hinterlassen und die vielen Nymphen, Satyre und Zentauren, die seitdem getötet worden sind, vergrößern diese. Die Kugel kann immer weniger Magie entziehen, daher wird der Zauber bald unterbrochen werden.“
„Was passiert dann?“
„Etwas, das vor so langer Zeit getrennt wurde, wird sich nicht einfach wieder vereinigen. Die Welt, die wir kennen, wird ihr Angesicht verändern und es wird Chaos herrschen.“
„Michelle, lass dir keine Angst einjagen. Das ist unmöglich. Denk daran, wir sind auf den Mond gelandet und haben das Weltall erforscht.“
„Ich habe keine Ahnung, wie sich die Magie in eurer Welt verhält, aber der Zauber wurde so gewirkt, dass ihr nie erfahren solltet, wo ihr lebt. Dsura wollte einen sicheren Ort für euch schaffen, an dem ihr euch frei entfalten könnt. Kein Gefängnis. Wenn du deine Meinung nicht geändert hast, folge mir.“
„Ich bin bereit.“
Das war sie nicht, aber sie musste den nächsten notwendigen Schritt gehen, damit sie endlich aus der Unterwelt konnten. Michelle sah, wie Nick die Lippen aufeinanderpresste, doch er hielt sie nicht auf, als sie mit der Regentin und Tejon den Thronsaal verließ.
Während Keshia sie immer tiefer in den Keller der Festung führte, wurde ihr übel. Unsere Welt ist wie ein Parasit, erkannte Michelle erschrocken, und die ihm näherende Welt ist am Ende … Angst um ihre Eltern und Freunde ballte sich in ihrem Magen und sie begann zu frösteln.
„Das war wohl doch der falsche Zeitpunkt“, murmelte Tejon.
„Dafür hätte es keinen Richtigen gegeben.“
Michelle riss sich zusammen. Sie hatten das zweite oder dritte Untergeschoss erreicht und folgten einem Gang. Schemenhaft erkannte sie am Ende ein Tor und zwei Totengeister, die es bewachten.
„Von hier an müsst ihr alleine weitergehen“, sagte Keshia und schloss das Tor auf.
Tejon ging voraus und sie folgten der schmalen Wendeltreppe. Das schwache Amaltonlicht war tückisch und Michelle hatte das Gefühl, je mehr sie auf die Stufen achtete, desto mehr verschwammen sie vor ihren Augen. Ihre Beine hatten schon angefangen zu schmerzen, als die Treppe in einer großen Höhle endete.
Ein schmaler Weg, gesäumt von Abgründen zu beiden Seiten, führte zur Mitte der Höhle, wo sich ein Steinplateau befand. Auf ihm erhob sich ein kuppelartiges Gebäude.
„Diesmal werde ich hinter dir gehen“, sagte Tejon.
Als Michelle hinabschaute, konnte sie den Boden nicht erkennen und ihr Herz schlug schneller. Einen Sturz würde sie nicht überleben. Ich brauche keine Angst zu haben, redete sie sich ein. Der Weg ist breit genug, dass ich nicht balancieren muss. Einen Fuß vor den anderen setzend, versuchte sie sich auf den Weg zu konzentrieren und den Abgrund am Rande ihres Sichtfeldes zu ignorieren. Wie weit war es noch? Michelle blickte auf und blieb überrascht stehen.
Vor dem Tor des kuppelartigen Gebäudes lag eine schlafende Sphinx. Das ihnen zugewandte Gesicht war wunderschön und goldene Locken fielen ihr auf die Schultern, die bereits vom beigen Fell bedeckt waren. Sie war um einiges größer als eine echte Löwin. Vermutlich konnte die Sphinx, wenn sie stand, einem erwachsenen Mann ohne Probleme in die Augen schauen. Michelle schluckte, als sie bemerkte, wie muskulös dieses Geschöpf war.
„Warum bleibst du ste-?“ Tejon vollendete die Frage nicht. „Das muss Ameyas Hüterin der Schatzkammer sein.“
„Sie wird uns also nicht sofort angreifen?“
„Nein, dafür sind Sphinxe zu neugierig. Geh weiter.“
Es waren nur noch fünf bis sieben Meter, aber Michelle hatte ein ungutes Gefühl. Keshia hatte gesagt, dass sie nie die Schatzkammer betreten hatte. Was bedeutete, dass die Sphinx seit dem Fortgehen ihrer Herrin alleine war. Hoffentlich war sie hier nicht wahnsinnig geworden.
Als Michelle den Blick senkte, um weiter zu gehen, hörte sie kräftige Flügelschläge. Erschrocken schaute sie wieder auf. Die Sphinx war am Ende des Weges gelandet. Ihre Augen waren wie flüssiges Gold und sahen sie abwechselnd an.
„Was mache ich nur mit euch? Ihr seid zwar Diebe, aber vielleicht könnt ihr meine Langweile vertreiben.“
Dafür, dass sie Jahrhunderte allein gewesen war, wirkte die Sphinx erstaunlich normal.
„Wir handeln im Interesse der Todesgöttin“, sagte Tejon.
Ihre Augen blitzten zornig auf und sie bleckte die Zähne. Sofort teleportierte sich Tejon vor Michelle.
„Wie kann ein Totengeist so schamlos lügen? Mit unserer Gebieterin hat seit Jahrhunderten keiner mehr gesprochen. Hast du durch diesen falschen Körper deinen Respekt verloren?“ Sie fuhr die Krallen aus und duckte sich. „Dann sollte ich ihn in Stücke reißen.“
„Bitte wartet“, sagte Michelle und hob die Hand.
„Gut, denn ich will wissen, was ein Mensch in unserer Welt sucht.“
Sie erzählten ihr von der Prophezeiung und, weswegen sie gekommen waren. Die ganze Zeit peitschte der Löwenschwanz hin und her. Hoffentlich hatte das nicht dieselbe Bedeutung wie bei Katzen.
„Also gut, ich erlaube euch, das Schatzhaus zu betreten, nachdem wir um deine Gefühle gespielt haben, Erwählte.“
„Meine Gefühle?“, wiederholte Michelle verwirrt.
„Ja, sie sind das Wertvollste, was du hast.“
Die Sphinx hatte recht. Der Gedanke, ihre Empfindungen zu verlieren, ängstigte Michelle, aber nicht so sehr wie der Abgrund, in den sie stürzen würden, wenn die Sphinx sie angriffe.
„Was soll ich tun?“
„Hol aus der Höhle dort mein Schachbrett.“
Zur Höhle führte vom Felsplateau ein Weg, scheinbar ebenso schmal wie jener, auf dem sie gerade standen.
„Ich werde es für dich holen“, sagte Tejon.
„Nein, ich habe die Erwählte herausgefordert, aber du kannst sie gerne begleiten.“
Die Sphinx zog sich zum Tor der Schatzkammer zurück und Michelle atmete tief durch, als sie das Felsplateau betrat, obwohl ihr so etwas noch drei Mal bevorstand. Es wird nur schlimmer, wenn ich es hinauszögere, dachte sie und ging auf den anderen Weg zu. Ihr Herz machte einen Satz. Er war verdammt schmal. Vielleicht so breit wie ein Lineal. Kaum hatte Michelle den ersten Schritt getan, brach ein Stückchen am Rand ab. Erschaudernd hörte sie, wie die Steinchen hinunter rieselten.
„Ich gehe voraus“, sagte Tejon.
Vorsichtig nahm sie den Fuß zurück, bevor sie zur Seite trat, um ihn vorzulassen. Der Schauder saß immer noch zwischen ihren Schulterblättern wie eine kalte Hand und sie wehrte sich nicht gegen das Zittern, in der Hoffnung ihn loszuwerden. Es gelang ihr nicht ganz, doch sie folgte Tejon, der ihr bereits ein paar Meter voraus war.
Sie bewegten sich vorsichtig und verlagerten ihr Gewicht langsam von einen Fuß auf den anderen. Michelles Atmung war ganz flach geworden und sie merkte, wie ihr schwindelig wurde. Plötzlich gab der Weg unter Tejon nach und Michelle war so entsetzt, dass sie nicht einmal einen Schrei ausstieß, da bemerkte sie seine Hand. Er hatte sich an der Kante festhalten können. Michelle überwand die Strecke zwischen ihnen und ergriff sein Handgelenk, während sie betete, dass er nicht aus dem Lederhandschuh rutschte.
„Ich helfe dir.“
„Geh von der Kante weg. Ich schaff das schon alleine“, befahl er mit angespannter Stimme, ohne sie anzuschauen.
Sie folgte seinem Blick in die Tiefe. Aus dem Abgrund stiegen Seelen auf, doch diese waren nicht weiß wie jene, die Michelle bislang gesehen hatte. Sie leuchteten in grimmigen Grauviolett.
„Lass mich los und geh zurück.“
Stattdessen versuchte sie, ihn über die Kante zu ziehen. Die Seelen hatten schon Tejons Unterkörper und das andere Handgelenk umschlungen, als wollten sie ihn in einen Kokon einspannen, aber eine der Seelen glitt nach oben und legte sich wie eine Schlange um Michelles Hals. Seltsamerweise tat es nicht weh.
„Verdammt, lass mich los. Sie bringen dich um, indem sie deine Seele von deinem Körper trennen.“
Ihr wurde schwindelig, aber sie biss die Zähne zusammen. Sie durfte nicht aufgeben.
„Michelle, wenn die Prophezeiung erfordert hätte, dass du stirbst, hätte ich dich getötet“, fuhr er fort. „Ich hätte dich geopfert, ohne zu zögern.“
Nun lächelte sie grimmig. Obwohl die Worte sie verletzten, überraschten sie sie nicht.
„Untersteh dich, zu sterben!“, rief sie. „Oder diesen Körper zu verlieren! Ich will, dass du uns weiter begleitest.“
Michelle wollte keinen mehr verlieren. Mit einem Keuchen zog sie Tejon hinauf und die Seelen ließen von ihnen ab. Sie hörten Flügelschläge neben sich, aber die Sphinx flog mehrere Meter von ihnen entfernt, um sie nicht zu gefährden.
„Du hast den Test bestanden, Erwählte. Nur, wer sein Leben für andere riskiert, darf die Kammer betreten.“
Sprachlos sah Michelle die Sphinx an und das Fabelwesen lächelte. „Oder willst du unbedingt mit mir Schach spielen?“
„Nein, ich kann es nicht einmal.“
Die Sphinx lachte kehlig. „Da hast du wohl Glück gehabt.“
Von Glück wollte Michelle nicht sprechen. Vorsichtig drehte sie sich um, um zum Felsplateau zurückzukehren. Dort angekommen ließ sie sich auf die Knie sinken, weil sie plötzlich zu zittern anfingen.
„Ich brauche einen Moment.“
Weder die Sphinx noch Tejon hetzten sie, sondern warteten geduldig ab, bis sie sich wieder erhob. Gemeinsam gingen sie auf das rote Tor zu. Nachdem Tejon es geöffnet hatte, blieben sie staunend stehen. Das hatten sie nicht erwartet, denn auch wenn man den Begriff Schatzkammer für diesen Ort verwenden konnte, hätte Michelle das Wort Garten bevorzugt.
Es gab Rosenbüsche mit Blüten aus Saphiren, Rubinen und Topasen und Efeuranken aus Smaragd wanden sich die Säulen hinauf, die die Halle stützten. In ihrer Mitte erhob sich ein atemberaubender Kirschbaum, dessen prächtige rosa Blüten nie vergingen.
„Das muss Saghar erschaffen haben“, murmelte Tejon.
Das ist ein Denkmal der Liebe wie das Taj Mahal, dachte Michelle tief bewegt, da bemerkte sie eine kleine Säule unter dem Kirschblütenbaum. Tejon hatte sie auch gesehen und ging darauf zu. Zögernd folgte sie ihm.
Auf der Säule lag eine silberne Kette mit einem tropfenförmigen Stein, der im zarten Rosa schimmerte.
„Das ist nicht Alukas Diamant.“
„Natürlich nicht.“ Sie fuhren herum und sahen die Sphinx direkt hinter ihnen stehen.
„Was ist das?“, fragte Michelle.
„Berühr den Edelstein.“
Vorsichtig streckte sie die Hand aus und Gefühle durchfluteten sie. Die tiefe Zuneigung trieb ihr Tränen in die Augen, während in ihrem Geist Gesichter und Orte aufblitzten.
„Michelle?“, hörte sie Tejon sagen und spürte seine Berührung an der Schulter, bevor sie sich auf den Boden wieder fand.
„Das sind nicht nur Dsuras Gefühle für ihre Kinder, die mit ihr den Zauber aufrechterhalten, damit die Welten getrennt bleiben, sondern auch ihre Liebe für die magischen Geschöpfe Pherias.“ Die Sphinx schaute Michelle an. „Dsura hatte nie vorgehabt, dass alle von unserer Welt eure unterstützen müssen, doch selbst als fast alle Götter die Kugel wie ein unersättliches Tier füttern mussten, konnte sie sie euch nicht aufgeben. “
„Aber eure Welt stirbt!“
Die Sphinx seufzte. „Ich erinnere mich, dass unsere Gebieterin glaubte, dass ihre Mutter Hilfe erwartete. Wo auch immer diese herkommen sollte, sie traf nicht ein.“
Suchend schaute Tejon sich um. „Wenn Alukas Artefakt nicht hier ist, wo kann es sonst sein?“
„Glaub mir, wenn es hier wäre, würde selbst ein nicht magisches Wesen das spüren. Ihr könnt euch aber gerne umsehen, ob ihr einen Hinweis findet, der euch weiterhilft.“
Das taten sie, doch es gab nur diese eine Säule und verborgen zwischen funkelenden Rosenbüschen eine Bank aus weißem Marmor. Beim Abklopfen klang keine von beiden an irgendeiner Stelle hohl. Während Michelle zwischen Blätter und Blüten nach einem schwarzen Edelstein suchte, ließ der Schock nach. Wenn sie Alukas Diamanten nicht fanden, bedeutete das, dass sie nie mehr zurückkehren konnten?
„Das ist sinnlos“, sagte Tejon schließlich und Michelle nickte, bevor sie sich auf den Boden setzte. Hatte Chalina umsonst ihr Leben riskiert? Sie schaute zum Podest und erhob sich, um zur Sphinx zu gehen, die daneben wartete.
„Dürfen wir die Kette mitnehmen?“
Die goldenen Augen sahen sie an und Michelle hielt den Blick stand. Schließlich nickte die Sphinx.
„Trage sie mit Stolz, bis sie zu ihrer wahren Eigentümerin zurückkehren kann.“
Diesmal überwältigten Michelle die fremden Gefühle nicht, auch wenn es sich anfühlte, als ob ein zweites Herz in ihrer Brust schlüge. Nachdem sie die Kette umgelegt hatte, berührte der Stein nicht mehr ihre Haut und sie trug nur noch ihre eigenen Sorgen. Sie verabschiedeten sich von der Sphinx und kehrten niedergeschlagen in den Thronsaal zurück.
„Habt ihr ihn nicht gefunden?“, rief Kenar, als er ihr Gesicht sah, während Damaris die Stirn runzelte.
„Ich spüre starke Magie, aber sie ist nicht zerstörerisch, wie es Alukas wäre.“
Michelle deutete auf den Anhänger.
„Dsuras Gefühle befinden sich in diesem Stein.“
„Dsura braucht die Macht aus dem Schwarzen Diamanten, nicht ihre Gefühle“, sagte Kenar aufgebracht. „Habt ihr genau nachgesehen?“
„Natürlich, wir mussten keine Berge von Goldmünzen durchsuchen.“
Nachdenklich betrachtete Damaris den Anhänger. „Die Prophezeiung sagt nicht, um welches Artefakt es sich handelt. Wir sind nur die ganze Zeit davon ausgegangen, dass es Alukas‘ wäre. Sie hat so viele getötet und ihre Macht in diesem schwarzen Diamanten eingeschlossen, so dass es der mächtigste Gegenstand dieser Welt sein muss.“
„Bringen wir das Ding einfach eurer Göttin und wir werden sehen, ob es das Richtige war.“ Nick klang gereizt, aber er hatte recht. Sie hatten keine Spur von Alukas Artefakt. Vermutlich wusste nur Eshan, wo es war.
„Vielleicht wollen sie es sich selbst holen“, überlegte Michelle.
Die anderen sahen sie aufmerksam an.
„Wenn das Artefakt so mächtig ist und zum Bösen eingesetzt werden kann, ist es zu gefährlich, es uns anzuvertrauen.“ Sie schaute auf den tropfenförmigen Stein, der sie an eine Träne erinnerte. Gerne hätte sie ihn berührt, um noch einmal die tiefe Liebe der Göttin zu erfahren. „Nick hat Recht, wir bringen ihn zu Dsura.“
Kenar brummte: „Was nicht so leicht ist, denn wir müssen an einem Zerberus vorbei.“
„Nur Ameya konnte ihnen befehlen, jemanden aus der Unterwelt herauszulassen,“ sagte Keshia, „deshalb werden wir versuchen, ihn in seine Höhle einzusperren.“

Wenig später gingen die Regentin und eine Schar von Dienern ihnen voraus. Michelle musterte verwundert die Gruppe, die Keshia ausgewählt hatte. Keiner von ihnen wirkte besonders stark, sogar die hübsche Halina war dabei und trug wie die anderen einen Hammer und einige große Metallklammern an ihrem Gürtel. Plötzlich begriff Michelle, was diese Personen auszeichnete: Sie hatten bereits Körper, denn sie mussten das Schloss putzen und in Stand halten.
„Ihr bleibt hier, bis wir euch ein Zeichen geben“, sagte Keshia, als sie das Tor zum Hinterhof öffnete und die Diener hinaushuschen, um an einem bereits am Boden liegendem Metallgitter Stellung zu nehmen.
Während Keshia ruhig auf den dunklen Eingang der Höhle zuging, glitt Michelles Blick kurz zu dem großen Tor direkt daneben. Die Stufen einer Treppe waren zu erkennen, doch von der dreiköpfigen Hunderasse, die dafür sorgte, dass kein Toter oder Lebender die Unterwelt verließ, war nichts zu sehen. Daran würde sich bald etwas ändern.
Obwohl sie auf eine Reaktion gewartet hatte, fuhr Michelle zusammen, als ein durchdringendes Jaulen ertönte und ein riesiger Hund aus der Höhle stürmte. Der Kopf in der Mitte war nur ein Schädel, der Linke wirkte halb verrottet und der Rechte erinnerte an einen Dobermann genauso wie der Rest des Körpers.
„Langsam!“, befahl Keshia.
Der Zerberus bremste ab und senkte schwanzwedelnd seine Köpfe herunter, damit die Regentin sie berühren konnte. Diese streichelte jeden von ihnen ohne Abscheu, bevor sie mit dem großen Tier in der Höhle verschwand.
Die Diener begannen das Metallgitter zur Höhle zu ziehen und Michelle wurde flau in Magen. Keshias Plan war, sich mit dem Zerberus einsperren zu lassen, der ohne Zweifel toben würde, sobald sie und die anderen sich der Treppe näherten. Würde er es überhaupt dulden, dass das Metallgitter vor seine Höhle gestellt wurde? Gespannt beobachtete Michelle, wie die Diener es mühsam aufrichteten. Dann zogen sie die Metallklammern und trieben sie mit lauten Hammerschlägen um die Gitterstäbe in den Felsen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie fertig waren. Die Diener stemmten sich mit ihrem Gewicht gegen das Gitter und Halina winkte ihnen zu.
„Wagen wir es!“, sagte Kenar und umfasste seine Waffe fester.
Michelle hatte nicht gemerkt, wie er sie gezogen hatte, doch nun sah sie, dass auch Damaris kampfbereit war. Leise bewegten sie sich auf die Treppe zu, aber sie hatten nicht einmal die Hälfte des Hinterhofes hinter sich gelassen, als ein tiefes Knurren ertönte und der Zerberus sich gegen das Gitter warf. Eine Metallklammer fiel scheppernd auf den Boden.
„Lauft!“, rief Damaris.
Sie rannten los, während das Gitter unter den Angriffen ächzte und knarrte. Die Metallstäbe dellten sich immer stärker nach außen aus. Michelle erschauderte, als sie die Treppe fast erreicht hatten und der Höhle am nächsten waren. Geifer spritzte ihnen entgegen und noch mehr erschreckten sie die wild rollenden Augen. Der Hund, der voller Zuneigung zu Keshia gewesen war, hatte sich in eine Bestie verwandelt. Er würde sie in Stücke reißen, wenn er die Gelegenheit dazubekäme, und es war nur eine Frage der Zeit, bis er das Metallgitter entweder durch seine Kraft gesprengt oder aus seiner Verankerung gestoßen hatte.
Schneller, dachte sie, während sie die Treppe hochliefen. Plötzlich hörte sie das Klackern von Krallen, die gegen Stein stießen. Michelle brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass der Zerberus ihnen mit mächtigen Sprüngen hinterherjagte.
„Überlasst das mir.“
Damaris machte kehrt und Michelle blieb abrupt stehen, auch wenn sie wusste, dass der Windgeist sich dem Zerberus stellte, damit sie entkamen. Konnten sie nichts gemeinsam tun? Sie wollte nicht, dass sich noch jemand opferte. Mit grimmigem Gesicht ergriff Nick ihre Hand, um sie weiterzuziehen, und der Augenblick der kindischen Auflehnung gegen die Wahrheit endete. Jedoch lauschte sie, versuchte trotz rasendem Herzschlag und schnellem Atem, etwas hinter sich zu hören. Kurz erklang ein eigenartiges Zischen und plötzlich war Damaris wieder da. Unverletzt.
„Was ist geschehen?“, wollte Tejon wissen.
„Ich konnte hier in der Unterwelt genug Magie ansammeln, um einen Blitz zu erzeugen. Der Zerberus wird sich einige Zeit nicht bewegen können.“
„Was ist das da vor uns?“, fragte Kenar.
Aus der Decke ragten riesige Zähne, als hätte jemand versucht, den Oberkiefer eines Drachen dort zu verstecken.
„Bis dorthin bewacht der Zerberus die Unterwelt.“
Also waren sie gleich in Sicherheit, trotzdem schaute Michelle beklommen die spitzen Zähne an. Hoffentlich begegneten sie nie einem lebendigen Exemplar dieser Gattung. Sobald sie die Zähne hinter sich gelassen hatten, fielen Michelle und Gavin auf die Knie.
„Danke, Dsura, danke“, murmelte er erleichtert, während sie um Atem rang und Kenar sein Schwert zurück in die Scheide steckte.
Nach einer kurzen Pause gingen sie weiter, denn der Wunsch, an die Oberfläche zurückzukehren, trieb sie voran. Endlich wieder Wind auf der Haut spüren und Vogelgezwitscher hören statt die hallenden Hufschläge von Kenar und Gavin und ihre eigenen schlürfenden Schritte. Ihre Vorfreude erstarrte auf einmal.
„Liegt das Tote Land auch unterirdisch?“
„Nein, das Tote Land ist eine unfruchtbare Steppe auf der anderen Seite des Gebirges.“
Erleichtert atmete sie aus. Selbst so ein Ort war ihr lieber als dieses Leben unter der Erde. Steppe klang nach Weite und Freiheit. Schließlich endeten die Stufen an einem Gang, an dessen Ende Tageslicht war. Sie hatten es geschafft, doch Michelle blieb zwinkernd stehend. Das Licht brannte in ihren Augen.
„Wartet einen Moment“, sagte Damaris mit ernstem Gesichtsausdruck und schlich alleine weiter.
Sie spürte Angst in sich aufsteigen. Was war nun schon wieder?
Als der Windgeist zurückkehrte, warf er gelegentlich einen Blick über die Schulter und verharrte. „Ich hatte recht. Alukas Diener erwarten uns. Sie halten sich zwischen den Bäumen und Büschen verborgen, aber ihr Geruch verrät sie.“
„Verdammt, woher kannten sie unsere Pläne?“, fluchte Kenar leise, dann wurde sein Blick grimmig. „Wir müssen durchbrechen.“
„Leider bleibt uns keine andere Wahl. Dieses Tal hat drei Zugänge. Der linke Weg führt zum Heiligen Wald, und ich vermute, dass er auch am stärksten bewacht ist.“ Tejon schaute Damaris an.
„Zumindest trägt der Wind von dort ihren Geruch, doch ein kluger Anführer würde versuchen, uns alle Wege abzuschneiden, wenn er genügend Männer hat.“
„Rechts geht es zu einer Treppe, die zu einem Windgeistdorf und der Steingeborenenstadt führt. Über der untersten Stufe spannt sich ein steinerner Bogen, den Alukas Geschöpfen nicht durchschreiten können, und auf der zweiten Stufe steht ein Gong.“
„Was ist mit dem letzten Weg?“
„Er befindet sich uns fast gegenüber, aber es handelt sich um eine Schlucht mit Dreizack- und Himmelsspinnen.“ Tejon schaute Kenar an. „Während wir Alukas Hyänenmenschen beschäftigen, nimmst du Michelle und Nick und läufst zum Gong, um das Dorf zu alarmieren. Gebt mir nur einen Augenblick, um mich auf den Kampf vorzubereiten.“
Während der Totengeist die Kleidung ablegte, zog Kenar sein Schwert und Damaris ging zu Gavin, den Tejon in seinen Plan nicht einmal erwähnt hatte. Sanft legte er die Hand auf seine Schulter. Michelle erinnerte sich daran, dass er als einziger Gavin wegen seines Verrates keine Vorwürfe gemacht hatte.
„Du bleibst in der Höhle. Wir holen dich, sobald es vorbei ist.“
Die Augen des Satyrs waren groß vor Angst, aber er nickte.
„Rauf mit euch“, sagte Kenar ungeduldig.
Nick seufzte. „Ich wünschte, ich hätte auch eine Waffe.“
„Damit du damit auf meinen Rücken herumfuchtelst?“
Nachdem Nick ihr hoch geholfen hatte, setzte er sich hinter sie. Der Zentaur schlich Damaris und Tejon fast bis zum Höhlenausgang hinterher. Michelle hätte ihnen gerne Glück gewünscht, aber sie wollte kein zusätzliches Geräusch machen, das sie verraten konnte. Ihre Hände umfassten Kenars Waffengurt fester, während Damaris und Tejon geradeaus weiter schlichen, als hätten sie keine Ahnung von dem Hinterhalt. Michelle war sich klar, dass die weit auseinanderstehenden Nadelbäume Kenar einen Vorteil gaben, aber sie würden Tejon und Damaris benachteiligen.
Plötzlich brachen die Hyänenmenschen aus ihren Verstecken hervor und stürmten auf die Zwei von beiden Seiten zu, um sie zu umzingeln. Ihre Anzahl ließ Michelle nach Luft schnappen, Kenar spannte sich unter ihnen an und galoppierte los. Ein Teil von ihr wollte den Zentauren drängen, ihren Gefährten zu Hilfe zu eilen, aber ihre Vernunft schrie: Schneller, wir müssen zum Gong! Die erwähnte Treppe war nur wenige hunderte Meter entfernt, da trat ein Wolfszentaur auf den Weg und bleckte die Zähne in einem höhnischen Grinsen. Nein …
„Grüß dich, Bruder.“
Überrascht hielt Kenar an.
„Unmöglich … Ein Zentaur begeht Selbstmord, ehe er Aluka in die Hände fällt.“
Der Wolfszentaur lachte. „Momentan ist eine ganze Schar von sogenannten Hütern des Heiligen Baumes unterwegs, um unsere Reihen zu stärken. Ich geb zu, es sind fast nur Stuten, aber das bedeutet nur, dass ich bald Vater von vielen Fohlen werde, oder?“
Mit einem wütenden Schrei stürmte Kenar auf ihn zu. „Das wird nicht geschehen!“
„Nicht!“, rief Michelle. Auch sie hatte das Erscheinen des Wolfszentauren überrascht und sie hatten kostbare Zeit verloren. „Wir müssen zum Gong!“
Kenar schien sie nicht zu hören, doch plötzlich stolperte er und Michelle flog im hohen Bogen dem Wolfszentauren entgegen, dabei drehte sie sich in der Luft. Nicht nur sah sie das Glitzern eines Fadens, sondern auch zwei Hyänenmenschen, die auf Kenar zuliefen.
„Vorsicht!“
Die Wucht des Aufpralls raubte ihr den Atem und die trockenen Nadeln stachen ihr in die Haut. Sie war wenige Meter vor dem Wolfszentaur entfernt. Bevor Michelle sich aufrappeln konnte, um zu fliehen, ergriff er sie. Sein Atem, der nach rohem Fleisch roch, schlug ihr entgegen.
„Ich hoffe, du hast diesmal ein Geschenk für meine Herrin bei dir, aber ich entreiße es auch gerne dem Leichnam eines deiner Freunde.“
„Lass sie auf der Stelle los, du Ungeheuer!“ Mit einem Ast bewaffnet stürmte Nick auf sie zu.
Bellend lachend schleuderte der Wolfszentaur nicht nur den Ast zur Seite, sondern auch Nick, der gegen einen Baum prallte und betäubt liegenblieb.
„Nein!“
Ein Gongton erschallte und verblüfft sah Michelle am Wolfszentauren vorbei. Es war Gavin, der den Schlegel zum zweiten Schlag ausholte.
Zähnefletschend jaulte der Wolfszentaur auf und einem Moment später wurde seine Miene grimmig. Keiner antwortete ihm. Michelle schaute über die Schulter. Die beiden Hyänenmenschen lagen tot am Boden und Kenar humpelte auf drei Beinen auf sie zu. Aus einer Schnittwunde an der rechten Fessel sickerte Blut. Hinter ihm kamen Tejon und Damaris angelaufen. Sie hatten gesiegt!
Der Wolfszentaur knurrte. „Ich nehme dich mit. Ohne dich kann sich die Prophezeiung nicht erfüllen.“
Er warf sie über die Schulter und galoppierte auf die Schlucht zu, vor der Tejon sie gewarnt hatte. Die Spinnennetze nahmen nicht ihre ganze Breite ein, waren aber versetzt gesponnen. Michelle erschauderte, als sie eine riesige schwarze Spinne oben in einem sitzen sah. Ihr Herz schlug ihr bis zum Halse, doch das Insekt kam nicht herunter, um ihnen den Weg zu versperren.
Geschickt wich der Wolfszentaur den Netzen aus, bis er plötzlich strauchelte. Michelle verspürte einen eigenartigen Zug und alles um sie herum wurde schwarz. Benommen öffnete sie die Augen und sah, wie eine große, schwarze Spinne über den bewusstlosen Wolfszentaur stand und einen Faden ausspuckte. Das graue Muster auf ihren Hinterleib erinnerte an einen Dreizack und in ihren kalten, glänzenden Augen sah Michelle sich und die Reflexion einer weißen Spinne. Erschrocken riss sie den Kopf hoch. Eine halbdurchsichtige Spinne krabbelte auf sie zu! Sie versuchte sich, aus dem Netz loszureißen, doch ohne sie zu beachten, kam die Spinne neben ihr auf den Boden auf und wollte scheinbar ebenfalls zum erlegten Wolfszentaur.
Michelles Blick folgte dem Insekt. Ihr schwarzer Artgenosse hatte angefangen, den Wolfszentauren fortzuziehen, und sie sah, was dahinter gelegen hatte: ihr Körper. Zielstrebig lief die weiße Spinne darauf zu.
„Halt!“, hörte sie Tejon sagen, die Spinne drehte sich um und auch Michelle wandte den Kopf.
Der Totengeist stand hinter ihr und hinderte mit ausgebreiteten Armen Damaris und Nick daran, in das unsichtbare Netz zu laufen.
„Halt?“, fragte Nick verblüfft. „Sollen wir warten, bis die Spinne zurückkehrt?“
„Nein, aber vor uns ist eine Himmelsspinne und ihr Netz. Michelles Seele ist hineingeraten.“
Ungläubig starrte Nick Tejon an, doch er hatte wohl bereits zu viel in dieser Welt erlebt, um die Warnung zu ignorieren.
„Bitte beeil dich“, flüsterte er.
„Geh, Fängerin der verirrten Seelen“, sprach der Totengeist zur weißen Spinne und sie krabbelte die Wand hoch, dann zog er Michelle aus dem Netz.
Ihre Füße schwebten über den Boden, doch sie konnte sie nicht vorwärtsbewegen.
„Keine Angst, ich vereine deine Seele gleich mit deinem Körper“, sagte Tejon, während er eine Lücke in das Netz riss und Nick erlaubte, ihren Körper zu holen. Er eilte los und Michelle spürte eine Wärme in sich, als sie sah, wie liebevoll er sie aufhob.
Als Nick mit besorgtem Gesicht vor Tejon trat, schubste dieser sie in Richtung ihres Körpers. Einen Moment hatte Michelle das Gefühl, jemand hätte sie in eine Waschmaschine im höchsten Schleudergang gesteckt, dann öffnete sie die Augen und erblickte Nicks Gesicht über sich. Ihr Herz begann schneller zu schlagen.
„Geht es dir gut?“
„Ja.“ Michelle spürte, wie sie errötete, während sie in seine blauen Augen schaute. Er machte keine Anstalten, sie abzusetzen. „Bin ich dir nicht zu schwer?“
Nick lächelte. „Ich hab dich in der Unterwelt getragen, schon vergessen?“
„Nein“, flüsterte Michelle, aber dies hier fühlte sich anders an; als wäre sie besonders wertvoll. Vielleicht stammte daher der Ausdruck auf Händen tragen.
„Wollten wir nicht gehen?“, fragte Tejon.
„Ja, klar“, antwortete Nick und ließ sie herunter.

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