Pheria 1 – Verhängnisvoller Zauber – Die Ebene

Mit schmerzenden Nacken wachte Michelle auf und neigte ihren Kopf vorsichtig nach links und rechts, um die Muskeln zu lockern.
„Zum Glück war das unsere letzte Nacht auf dem Floß“, sagte Chalina und streckte ihre Arme über den Kopf, bevor sie aufstand, um sich etwas zu bewegen.
Der Strand war bereits zu sehen und Michelle hielt Ausschau nach Ratten, aber sie entdeckte nichts Beunruhigendes. Nachdem sie vom Floss gestiegen waren, wandte sich Imena an den Wassermann.
„Vielen Dank, du warst uns eine große Hilfe.“
„Ich bedauere, dass ich nicht mehr tun kann. Ich bete für euch.“
Sie verabschiedeten sich voneinander und schritten eilig über den weichen Sand auf die Ebene zu. Die Gruppe hatte Nick und sie in die Mitte genommen, trotzdem schaute Michelle unruhig auf das hohe Gras. Ratten hätten sich darin ohne Probleme verstecken können. Fast erwartete sie, dass welche den vorangehenden Zentauren ansprangen, aber es geschah nichts. Das Gras, das Michelle bis zur Brust ging, raschelte nur leise im Wind.
Sie bewegten sich fast im Laufschritt und Michelles Atem wurde unregelmäßiger. Im Gegensatz zu Nick betrieb sie keinen Sport.
„Kenar!“, rief Chalina, die hinter ihr ging, und der Zentaur drehte sich um.
„Steig auf“, sagte er. „Du hältst uns auf.“
Obwohl er recht hatte, hätte sie gerne abgelehnt, denn sie hatte nicht vergessen, wie er sie über die Schulter geschmissen hatte.
„Ich helfe dir hoch“, sagte Nick.
Einen Moment fühlte Michelle sich fast verraten, aber dann ließ sie sich von Nick zum Zentauren führen. Seine Hände umfassten ihre Taille und schoben sie hoch, so dass sie das Bein über Kenars Rücken schwingen konnte. Sie griff in den Haltenriemen vom Wasserschlauch.
„Wenn du willst, trage ich dich ebenfalls.“
Nick schnaubte.
„Danke, ich hab mit der Geschwindigkeit keine Probleme. Je schneller wir vorankommen, desto schneller sind wir zuhause.“
Der Zentaur nickte nur.
„Übernimm die Vorhut Damaris“, sagte Imena. „Kenar, du läufst in der Mitte.“
„Was?“ Seine Stimme verriet Empörung, doch die Steinfrau begegnete ruhig seinem Blick.
„Solange du Michelle trägst, wirst du nicht vorne gehen.“
„Also gut“, brummte Kenar, „aber beschwer dich nicht, wenn Damaris einer Riesenschlange zum Opfer fällt.“
„Er ist ebenso schnell wie eine Schlange.“
Als der Zentaur los schritt, musste Michelle zusätzlich die Beine eng an seinen Leib pressen, um nicht abzurutschen. Sie spürte Kenars Fell an ihrer nackten Haut und wünschte sich, sie hätte Hosen an. Auch wenn es ihn nicht störte, ihr war es unangenehm.
Gavin holte auf, um neben Kenar zu laufen. „Ich wäre gerne an deiner Stelle. Du bist jetzt bestimmt glücklich wie ein Vogel, der zum ersten Mal fliegt.“
„Ich bin kein lüsterner Satyr.“
„Nein, aber ein lüsterner Zentaur.“
„Hey, hör auf, solche Dinge zu sagen.“ Finster schaute Nick Gavin an.
„Ist sie deine Freundin?“
Das Blut schoss ihr in die Wangen und sie blickte auf ihre Hände.
„Was geht dich das an?“, fuhr Nick ihn an.
Der Satyr schlüpfte auf Kenars andere Seite.
„Michelle, bist du vergeben oder habe ich eine Chance?“
Noch immer starrte sie auf ihre Hände, auch wenn sie vor Überraschung ihren Mund leicht öffnete. Was war denn das für eine Frage? Aus dem Augenwinkel sah sie, dass der Satyr sie wie ein junger Hund ansah.
„Gavin, bring sie nicht in Verlegenheit“, sagte Chalina. „Sie hat andere Probleme als einen Liebhaber zu finden.“
„In Ordnung, ich bin ja still, aber das Angebot steht.“
Scheinbar waren Satyre wirklich so lüstern, wie die griechische Mythologie sagte, allerdings sollten Zentauren ebenso sein und sogar Frauen rauben. Ihr Unbehagen wuchs und Michelle hob den Kopf. Von Kenars Rücken aus hatte sie einen guten Überblick und sie beschloss, Ausschau nach Feinden zu halten.
Als die Sonne hoch im Zenit stand, legte die Gruppe eine Rast ein, um zu essen. Nick half ihr herunter und Michelle ging einige unsichere Schritte. Ihre Muskeln schmerzten und ihre Beine fühlten sich verbogen an. Während sie aßen, hielten Damaris und Tejon Wache. Nach dem Essen machten sie sich wieder auf den Weg. Gelegentlich erhob sich ein Baum aus diesem grünen Meer oder eine Felsengruppe wie jene, auf die sie sich zubewegten. Am Horizont links vor ihnen zeichneten sich die Umrisse großer Wesen ab und beim Näherkommen fand Michelle, dass diese Tiere fast so aussahen wie Elefanten. Mit ihren langen Rüsseln rissen sie das Gras aus und stopften es sich in das Maul.
„Michelle, gib mir dein Smartphone!“
Diese Aufforderung überraschte sie nicht. Während sie es startete und entsperrte, machte Nick den Eindruck, als hätte er zu viel Kaffee getrunken. Hastig nahm er es entgegen und fluchte nach dem Starten der Kameraapp.
„Wir sind zu weit entfernt, ich muss näher ran.“
Nick stürmte los.
„Warte“, rief sie und spürte, wie ihr Herz zu rasen begann.
„Was für ein Idiot!“, stieß Kenar hervor.
„Ich hole ihn zurück, bevor ihm etwas passiert.“
Chalina lief ihm nach und holte ihn rasch ein, aber Nicks Haltung verriet, dass er nicht nachgeben wollte. Sie waren immer noch mehrere hundert Meter von der Herde entfernt, doch einer der Elefanten schaute beunruhigt in ihre Richtung. Scheinbar hatte Nick keine Lust mehr, mit der Nymphe zu diskutieren, und wandte sich ab. Eine Ranke glitt durch die Luft und Chalina lief leichtfüßig wie ein Reh zu ihnen zurück. In ihrer rechten Hand hielt sie das Smartphone.
Michelle atmete erleichtert aus, als Nick ihr mit verblüfftem Gesicht folgte. „Wie hast du das gemacht?“
„Das können alle Nymphen.“
„Kannst du mir das noch einmal zeigen?“
Chalina lächelte.
„Wenn du versprichst, dass du dann hierbleibst.“
„In Ordnung.“
Auch Michelle war gespannt und beobachtete, wie Chalina ihre Hand drehte, so dass sie die Innenfläche sahen. Die Adern am Handgelenk traten stärker hervor und dann stießen die Ranken aus der Haut.
„Tut das nicht weh?“
Chalina schüttelte den Kopf und gab Nick das Smartphone, dieser schaute Michelle bittend an.
„Kann ich es erstmal behalten?“
Vielleicht wäre er zufriedener, wenn er wieder eine Kamera hätte. Also stimmte sie zu und verriet ihm das Passwort.
Auf einmal erbebte der Boden und Kenar rief: „Die Herde geht durch!“
Das Schlimme daran war, dass sie in ihre Richtung liefen!
„Zu der Felsformation!“, befahl Imena.
„Halt dich fest!“, forderte Kenar Michelle auf und galoppierte los.
Ein Schrei unterdrückend presste sie ihre Knie noch stärker an den Pferdeleib und hielt sich an den Halteriemen der Taschen fest. Die Elefantenherde war vergessen. Michelle hatte eher Angst, dass sie herunterfiel und sich den Hals brach. Ihr kam es wie ein Wunder vor, dass sie oben blieb und sie ihr Ziel erreichten.
Kenar wandte sich um und Michelle sah, wie die anderen auf sie zu rannten. Der hohe Felsen verbarg die Elefanten vor ihren Augen, aber sie hörte ihr Trompeten und die donnernden Schritte. Viel zu nah. Endlich erreichten alle den Schutz der Felsen und Gavin zwängte sich sofort in einen kleinen Spalt. Chalinas Ranke aus der rechten Hand schwang zu einem Vorsprung, die andere um Michelles Taille, dann verloren ihre Füße ihren Halt und sie wurde nach oben gerissen. Fast gleichzeitig landete Damaris mit Nick neben ihnen. Die Stoffbinde gab Nick frei und schoss mit einer Ranke zu Imena, um sie hochzuziehen.
Obwohl alles schnell ging, schaute Michelle besorgt nach unten, denn Kenar hätten die beiden auch nicht mit vereinten Kräften hochziehen können. Inzwischen kletterte Tejon den Felsen hinauf und die ersten Tiere liefen an ihnen vorbei. Sie bemerkte, dass diese Elefanten vier statt zwei Stoßzähne hatten, dann hielt die Herde plötzlich an. Michelle schaute sich um. Die Tiere umschlossen die Felsformation und standen in wenigen Metern Entfernung, denn eines war eingeknickt. Es wurde von mehreren Rüsseln betastet.
Aus dem Augenwinkel sah Michelle, wie etwas in Nicks Hand aufblitzte. Die Elefanten bemerkten es ebenfalls. Während die meisten zurückwichen, kam einer mit flatternden Ohren auf sie zu. Seine Stoßzähne reichten bis zum Boden. Fluchend galoppierte der Zentaur davon und nutzte die Lücken, um dem Elefanten zu entkommen. Nachdem der Bulle ihm eine Weile hinterhergestampft war, kehrte er laut trompetend zurück und rammte mit dem Schädel den Felsen. Und dann nochmal. Blut lief aus der aufgeplatzten Stirn, aber das kümmerte den Elefanten nicht. Ein drittes Mal krachte er gegen den Stein.
„Spiel deine Flöte, Gavin!“, rief Chalina.
„Das ist kein Hirsch oder Ziegenbock.“
„Es ist aber auch kein Raubtier. Versuch es.“
Die ersten Noten klangen misstönend und endeten abrupt, als der Elefant wütend trompetete und aufstampfte.
Chalina rief: „Schließ die Augen und stell dir vor, dass du beim Frühlingsfest auftrittst. Du hast die Gelegenheit eine Partnerin zu finden. Nutz sie.“
Gavin versuchte es erneut und diesmal erklang eine fröhlichere Melodie. Der Elefant hielt inne und einige andere schaukelten mit den Ohren. Das Tier, das zusammengesunken war, kam wieder auf die Beine. Der Bulle trompetete und die Herde zog weiter.
„Sie sind weit genug entfernt“, meinte Tejon und begann hinabzuklettern.
„Ich frage mich, weshalb sie durchgegangen sind“, sagte Chalina, als sie alle wieder unten waren. „Hast du etwas gesehen, Damaris?“
„Nein.“ Der Windgeist ging zum Spalt. „Komm heraus, die Erendos sind nicht mehr zu sehen.“
Zögernd kam Gavin hervor. „Was bin ich froh, dass es Erendos nicht im Wald gibt. Das sind furchterregende Geschöpfe. Wir hatten Glück.“
Chalina lächelte ihn an.
„Glück und einen Satyr.“
Gavin errötete.
„Ich nehme gerne einen Heldenkuss.“
Lachend beugte Chalina sich herunter und küsste ihn auf die Wange. Ein zufriedener Seufzer entwich seinen Lippen.
„Wenn mir Michelle noch einen Kuss auf die andere Wange gibt, muss ich der glücklichste Satyr sein, der je gelebt hat.“
„Übertreib es nicht“, ermahnte die Nymphe ihn fröhlich.
Michelle warf einen Blick auf Nick, der aber von allen nichts mitbekam, sondern zufrieden durch die Galerie scrollte.
„Da sind super Aufnahmen dabei.“
In diesem Moment galoppierte Kenar heran und ergriff Nick am Kragen.
„Was hast du dir dabei gedacht? Vermutlich nichts, du Trottel!“
„Laß mich los.“
Die Augenbrauen zogen sich zusammen, aber im nächsten Moment stieß er Nick von sich.
„Du bist es nicht wert. Ich verschwende nicht länger Zeit mit einem dummen Jungen.“
Rote Flecken erschienen auf Nicks Wangen.
„Behandle mich nicht wie ein Kind!“
Der Zentaur hatte sich bereits abgewandt und murmelte: „Von den beiden ist sie definitiv die Schlauere.“
Nick ballte die Hände zu Fäusten, dann drehte er sich zu ihr.
„Komm, Michelle.“
Ohne auf ihre Antwort abzuwarten, marschierte er los.
„Nick, was hast du vor?“
„Wonach sieht es denn aus? Wir gehen alleine weiter.“
Mittlerweile war er mehrere Schritte von ihr entfernt und sie glaubte nicht, dass er es sich anders überlegen würde. Wenigstens lief er in die Richtung, in der sie ursprünglich wollten.
„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich bei den anderen und hastete ihm nach.
Wenig später raschelte das Gras zu beiden Seiten und Damaris und Kenar liefen ihnen in kurzer Strecke links und rechts voraus.
Nick fuhr zu der restlichen Gruppe, die hinter ihnen gingen, herum. „Was wollt ihr?“
Ruhig antwortete Imena: „Wir werden euch nicht zwingen, mit uns zukommen, aber wir können euch nicht alleine lassen.“
Ein kurzes Schnauben und Nick stampfte weiter.
„Bitte beruhige dich!“
„Ich lasse mich nicht wie ein kleines Kind behandeln.“
Wenn sie etwas mutiger gewesen wäre, hätte sie ihm gesagt, dass er sich so verhielt, aber Michelle erwiderte nichts, denn sie wollte nicht, dass er auch vor ihr davonlief. Sie musste warten, bis er sich beruhigt hatte. Vielleicht konnte man dann mit ihm reden. Die Innenseiten ihrer Oberschenkel und ihre Knien schmerzten, so dass sie drauf achtete, breitbeiniger als sonst zu gehen. Michelle fühlte sich wund und schaute auf ihr Kleid, entdeckte aber keine Blutflecken.
Am Abend fanden sie einen Baum und Nick beschloss, dass das ihr Schlafplatz für die Nacht sein sollte. Erschöpft setzte sich Michelle und beobachtete, wie die anderen einen Kreis um sie bildeten. Um Gefahren abzufangen, schien ihr diese Formation als riskant für den Einzelnen zu sein.
„Wollen wir nicht die Nacht mit ihnen verbringen und ein richtiges Lager bilden?“
„Nein, tue so, als wären sie nicht da.“
Zwar wirkte Nick nicht mehr so zornig, aber er hatte einen grimmigen Zug um den Mund.
„Guten Abend, ihr zwei.“ Chalina trat zu ihnen. „Ich habe etwas mitgebracht.“
„Wir wollen nichts von euch.“
„Ich werde das Essen und den Wasserschlauch hierlassen. Entweder ihr trinkt und esst etwas oder ich nehm beides morgen wieder an mich.“ Die Nymphe legte einige Oris und den Wasserschlauch auf den Boden, dann schaute sie Michelle an. „Außerdem werde ich erst gehen, wenn ich mir deine Beine näher angeschaut habe. Deine Bewegungen verraten, dass du Schmerzen hast.“
Verwirrt blinzte Nick und sie wich seinen Blick aus.
„Würdest du dich bitte umdrehen?“, flüsterte sie.
Nachdem er das getan hatte, zog Michelle das Kleid hoch. Die Innenseiten ihrer Beine waren stark gerötet, am schlimmsten sahen ihre Knie aus.
„Ich habe unterwegs ein paar Kräuter gefunden, mit denen ich zumindest für die Knie eine Packung erstellen kann.“
„Danke, Chalina.“
Suchend blickte sich die Nymphe um und nahm zwei Steine. Der eine war groß und flach und auf ihn legte sie ein paar Gräser, die sie aus ihrer Tasche hervorholte. Den anderen Stein benutzte sie als Stößel. Mit gleichmäßigen Bewegungen bearbeitete Chalina die Pflanzen zu einem Brei. Bereits beim Auftragen war er wohltuend.
„Schlaft gut“, sagte Chalina und ließ sie alleine.
„Es tut mir leid, dass ich nichts gemerkt habe.“ Nicks Stimme war ein Flüstern.
„Schon gut.“
Michelle schaute auf die Früchte und den Wasserschlauch, die Nick bislang ignorierte. Wäre er wütend auf sie, wenn sie Chalinas Hilfe annahm, oder gab sie ihm dadurch die Chance, sein Gesicht zu wahren, weil sie als Erste schwach geworden war? Sie streckte die Hand aus, ergriff eine der Früchte und aß sie, ohne Nick anzuschauen, dann öffnete sie den Wasserschlauch und trank.
Als sie ihn wieder zurücklegte, wartete sie ab, aber Nick regte sich nicht. Auf einmal stiegen Michelle Tränen in die Augen. Warum machte er alles noch schwieriger, als es bereits war?
„Wir sind seit 4 Tagen in dieser Welt. Unsere Eltern sind sicher krank vor Sorge“, flüsterte sie.
„Meine nicht und deine wissen, dass ich auf dich aufpasse. Wir finden schon eine Ausrede.“
Unsinn. Ihre Eltern wussten, dass sie nicht einfach so verschwände.
Nach einer Weile murmelte Nick: „Ich hoffe, wir sind in weniger als drei Wochen zurück, damit ich das Shooting machen kann. Nein, ich muss einen Tag vorher da sein. Ich brauche eine neue Kamera.“
Keiner von ihnen hatte gefragt, wie weit es zu den Göttern war, und ihr wurde klar, dass selbst Nick Angst davor hatte, eine Antwort darauf zu bekommen.
„Gute Nacht“, sagte Michelle und legte sich hin.
Normalerweise schlief sie auf der Seite, aber nach kurzer Zeit schmerzten ihre Knie. Sie rollte sich auf den Rücken und betrachtete die Sterne. Trotz ihrer Erschöpfung dauerte es lange, bis ihr die Augen zufielen.
Als Michelle aufwachte, bemerkte sie, wie eine kleine Kreatur hinter Nick im Gras verschwand. Sie flüsterte seinen Namen und er drehte sich um. Die Augen waren noch immer geschlossen, seine Züge jedoch entspannt. Erleichtert atmete sie durch. Das kleine Wesen, das wie eine Fledermaus ausgesehen hatte, hatte ihm nichts getan.

Eine leichte Berührung an Michelles Schulter weckte sie. Als sie die Augen aufschlug, sah sie in Nicks lächelndes Gesicht.
„Komm, Michelle, gehen wir weiter. Wir müssen etwas zu trinken und zu essen finden.“
„Was ist, wenn wir nichts finden?“
Seine Augenbrauen zogen sich finster zusammen.
„Ich habe nicht vor, zu ihnen zu kriechen und um etwas zu betteln. Wir werden etwas finden.“
Sie schaute sich um und stellte fest, dass die anderen alle wach waren. Chalina lächelte ihr zu, aber Michelle senkte beschämt den Blick und nahm weder den Wasserschlauch noch die Früchte mit. So wie sie sich verhielten, hatten sie keine Hilfe verdient, denn sie gefährdeten nicht nur sich, sondern auch andere. Während sie Nick folgte und ihre Beine vor Muskelkater schmerzten, wurde ihr bewusst, dass ihr Verhalten fast ebenso unverständlich wie seins war, und sie würden beide heute den Preis dafür zahlen, dass sie ihre Gefühle nicht kontrollieren konnten.
Auf einmal hielt Nick inne und drehte sich mit einem triumphierenden Lächeln um.
„Schau, eine Wassermelone.“
Als er sich bückte, um sie aufzuheben, erwachte diese zum Leben. Blitzschnell die Erde aufwühlend, erschien ein Gesicht mit vier Augen sowie acht Beinen. Die Spinne sprang Nick an, ihre Maulwerkzeuge bohrten sich in seine Hand und er taumelte gegen Michelle. Bevor die Spinne auch sie anspringen konnte, traf sie eine Dornenranke und schleuderte sie in einen hohen Bogen fort.
Nick lag schwer in ihren Armen und rührte sich nicht. Aus den Bissstellen trat Blut heraus.
„Oh nein! Nick, bitte stirb nicht!“
Das Gras raschelte und Chalina kniete sich neben ihnen.
„Keine Angst, Michelle, der Biss dieser Spinne ist nur lähmend. Er wird sich bald wieder bewegen können.“
Erleichtert atmete Michelle durch und bettete seinen Kopf auf ihren Schoß.
„Es tut mir leid, dass wir das nicht verhindern konnten“, sagte Chalina, während sie eine Bandage hervorholte und Nicks Hand verband.
Michelle schüttelte den Kopf. Wäre Nick nicht so stur gewesen, wäre das nicht passiert. Sie musste ihn überzeugen, den Schutz der Bewohner dieser Welt anzunehmen.
„Es ist nicht eure Schuld. Sie liegt ganz allein bei uns.“
Ja, auch sie war dafür verantwortlich. Auf der Erde kam man gut zurecht, selbst wenn man feige oder schüchtern war. Hier musste sie lernen, sich durchzusetzen und offener zu werden.
Als Nick sich wieder bewegen konnte, sagte er: „Das sind wirklich hinterlistige Viecher.“
Chalina berührte ihn sanft am Handgelenk.
„Du willst deine Freundin sicher nach Hause bringen, oder?“
„Natürlich!“
„Dann lass sie uns gemeinsam beschützen.“
Sie schaute ihm in die Augen und Nick senkte den Blick.
„Einverstanden.“
Das Gras um sie herum bewegte sich und der Rest der Gruppe stieß zu ihnen. Unsicher stand Michelle auf und bat sie um Entschuldigung. Nick dagegen blieb stumm.
„Ich bin froh, dass wir wieder zusammen reisen“, sagte Gavin.
Als sie den Weg fortsetzten, ging Michelle neben Chalina.
„Vielen Dank für deine Hilfe.“
Ein schmerzhafter Ausdruck huschte über das Gesicht der Nymphe.
„Du brauchst mir, nicht zu danken.“
Machte sie sich etwa Vorwürfe? Kaum hatte sie sich die Frage gestellt, lächelte Chalina wieder und wirkte unbekümmert. Michelle merkte, dass die Gruppe langsamer ging als am vorherigen Tag, was eine Mischung aus Unbehagen und Erleichterung in ihr auslöste. Hoffentlich wussten nur die Nymphe und die Steinfrau, was genau mit ihr los war.
„Was für Tiere leben hier?“
„Die Erendos, die ihr gestern gesehen habt, sind die größten Tiere in der Ebene. Sie haben bis auf die Ratten und Hyänen keine Feinde.“
„Die Ratten trauen sich, die Erendos anzugreifen?“
„Wenn die Gruppe groß genug ist schon, ansonsten stellen sie einer kleinen Antilopenart namens Tepu nach oder den verschiedenen Vogelarten.“
„Ich habe noch keinen einzigen Vogel bemerkt.“
„Das ist ein gutes Zeichen, denn sie bewegen sich am Boden und fliegen nur auf, wenn sie Gefahr wittern.“ Chalina seufzte. „Früher haben viele andere Tiere hier gelebt, aber sie sind Alukas Gier oder ihren Kreaturen zum Opfer gefallen. Die Riesenschlange und die Grüngestreifte Spinne von eben haben es geschafft zu überleben.“
„Wie sehen diese Kreaturen Alukas denn aus?“, wollte Nick wissen.
„Die Hyänenmenschen haben den Unterleib eines Satyrs und den Kopf einer Hyäne, dann soll es noch Wolfszentauren geben.“
„Das ist eine Legende!“, zischte Kenar hinter ihnen. „Niemals läßt einer meiner Art zu, dass er Aluka in die Hände fällt.“
Nicks Züge verhärteten sich, als er die Stimme des Zentauren hörte. Vielleicht brauchte er jemanden, auf den er wütend sein konnte, aber eine angenehme Reise lag dadurch nicht vor ihnen.

Im Verlauf des Nachmittags fanden sie echte Wassermelonen und Michelle freute sich, etwas essen zu können, was es auch in ihrer Welt gab. Nach dem Abendessen begann Gavin ganz leise auf seiner Flöte zu spielen und Michelle drehte sich von den anderen weg, bevor sie das Kleid hochzog. Obwohl sie noch immer Muskelkater hatte, hatte sich zumindest ihre Haut erholt.
„Du benötigst meine Hilfe wohl nicht mehr“, ertönte Chalinas Stimme fröhlich hinter ihr.
„Ja, es ist alles wieder in Ordnung.“
Lächelnd ging Chalina zu Nick und bat ihn, die Bissstelle kontrollieren zu dürfen. Mit einem Schulterzucken deutete er an, dass es ihm gleich war. Die Nymphe kniete neben ihn nieder und wickelte vorsichtig den Verband ab. Die beiden Punkte waren blutverkrustet und die Haut nur leicht gerötet.
„Das sieht gut aus.“
Michelle spürte einen Stich, als sie merkte, dass Nicks Blick viel zu lange auf Chalinas Gesicht ruhte. Fiel ihm erst jetzt auf, wie schön sie war?
„Ich habe mich noch gar nicht bedankt“, sagte er leise. „Es tut mir leid.“
Die Nymphe schaute ihn an.
„Mache dir keine Gedanken. Ich verstehe, dass es für euch schwierig ist.“
„Einer schönen Frau gegenüber sollte man sich nicht so verhalten.“
Chalina runzelte die Stirn, während Michelle spürte, wie sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog. Das war das erste Mal, dass Nick versuchte, mit einer blonden Frau zu flirten.
„Ich finde, dass Freundlichkeit unabhängig vom Geschlecht oder Aussehen sein sollte.“ Die Nymphe lächelte wieder. „Du hast in den nächsten Tagen Gelegenheit, es gut zu machen. Jetzt, wo die Stelle geschlossen ist, lassen wir am besten Luft dran.“
Nicks Blick folgte Chalina, als sie aufstand. Was dachte er sich dabei? Sie spürte, wie sie wütend wurde, und legte sich nieder, um zu schlafen.

Nach einigen wirren Träumen wachte Michelle auf und drehte sich in der Hoffnung, schnell wieder einschlafen zu können, auf die andere Seite, dabei begegnete sie Tejons Blick.
„Du hast einen schlechten Schlaf.“
„Ja, leider.“ Sich aufrichtend schaute sie sich um. Reglos lagen die Umrisse der anderen im Dunklen. „Hältst du immer alleine Wache?“
„Totengeister benötigen keinen Schlaf.“
„Was ist ein Totengeist?“
„Wir führen die Seelen der Verstorbenen in die Unterwelt.“
Michelle fragte sich, ob sich hinter der Maske ein Totenschädel verbarg, aber seine Hände hatten auf dem Floß normal ausgesehen.
„Hast du keine Angst vor mir?“
Als sie den Kopf schüttelte, nahm er die Maske ab und streifte gleichzeitig die Kapuze zurück. Zum Vorschein kam ein Gesicht mit bleichen, schönen Zügen.
„Mein Verhüllen ist eine Sicherheitsmaßnahme, denn wenn jemand mich versehentlich berührt oder ich ihn, stirbt derjenige sofort, gleichgültig wie stark er ist.“
Statt Schrecken fühlte Michelle Mitgefühl.
„Es gibt keine Möglichkeit, diese Kraft zu kontrollieren?“
„Das ist keine Kraft, sondern eine Nebenwirkung, wenn wir uns einen künstlichen Körper erschaffen.“ Sorgfältig setzte er die Maske wieder auf und zog sich die Kapuze über.
Im nächsten Moment sprang Tejon auf.
„Eine von Alukas Fledermäusen!“
Sofort erwachten die anderen. Damaris warf eins seiner Kurzschwerter. Die Fledermaus versuchte auszuweichen, doch die Waffe streifte ihren Flügel, sodass sie einen Augenblick in die Tiefe taumelte, bevor sie sich fing. Da schoss eine Ranke hinauf und zog das Tier hinunter. Damaris hob sein Schwert und rammte es der Fledermaus in den Körper. Sie stieß einen schrillen Laut aus, der Michelle erstarren ließ. Trotzdem stand sie auf, um sich das getötete Tier anzusehen, während Damaris seine zweite Waffe suchen ging. Die Fledermaus war klein und hatte eine graue Färbung um die Augen.
„Ich hab gestern vielleicht eine dieser Art gesehen.“
„Warum hast du nichts gesagt?“, fuhr Kenar sie an und Michelle wich zurück.
Nick stellte sich vor sie. „Das ist eure verdammte Welt! Verlangt nicht, dass wir wissen, dass eine Fledermaus mehr als eine Fledermaus ist.“
Bis auf Tejon schienen alle bei diesen Worten zusammenzuzucken und Kenar wurde blass.
„Du solltest dich wirklich bei ihr entschuldigen“, seufzte Chalina. „Sowohl der Vorwurf als auch der Tonfall waren unangemessen.“
Der Zentaur räusperte sich. „Ich bitte dich um Verzeihung, Michelle.“
„Schon gut.“
Noch immer stand Nick angespannt vor ihr, als müsste er sie vor den anderen beschützen.
„Du bekämpfst den falschen Feind“, sagte Imena. „Jeder von uns würde sein Leben für Michelle geben. Das ist nicht dahingesagt. Wir alle kennen jemanden, der im Kampf gegen Alukas Kreaturen gefallen ist. Aber es fällt uns schwer, euch zu beschützen, wenn ihr uns nicht traut.“
Nick entspannte sich, doch Michelle beruhigten diese Worte nicht. Im Gegenteil, sie machten alles nur noch schlimmer. Ich bin nichts Besonderes. Das Horn hätte jemanden nehmen sollen, der Judo oder eine andere Kampfsportart beherrscht. Sie war nicht mal sportlich.
Ihre Betroffenheit bemerkend sagte Chalina, als sie sich wieder hinlegten: „Nimm es dir nicht zu Herzen.“
„Das ist nicht etwas, was man in meinem Land hört.“
„Ist deine Welt friedlich?“
„Ich schätze, unser Land kann man so nennen, aber es gibt woanders Kriege.“
„Ihr kämpft gegeneinander?“
Chalina sagte dies in einen so verwunderten Tonfall, dass Michelle sich beschämt fühlte.
„Leider ja.“

Kapitel 4: Der Wald (Teil 1) lesen